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My Pony is over the Ocean: Die schwimmenden Wildpferde von Assateague

Eine Gruppe Wildpferde schwimmt im Meer.
Wie Mauern schützen lang gestreckte, schmale Inseln die flache Ostküste vor den ungestümen Wellen des Atlantiks. Eine davon ist das menschenleere Eiland Assateague. Seit Jahrhunderten wird es bewohnt von wilden Pferden – den Ponys von Chincoteague.

Das Hufgetrappel reißt mich aus den Träumen. Über meine Zeltwand, von der Morgensonne angestrahlt, huschen lange Schatten. Bis ich begreife, was passiert, sind die vierbeinigen Frühaufsteher über alle Dünenberge. Emma, meine Nachbarin, war schneller und ist nun hörbar glücklich.

Ich ärgere mich nicht. Bin ich doch zum ersten Mal in meinem Leben zwischen wilden Pferden aufgewacht. Der Campingplatz, auf dem ich übernachtete, liegt in einem ihrer Lebensräume. Assateague, vier Autostunden von der Metropole Washington DC, ist ein Biosphärenreservat, in dem dreihundert Ponys leben. Ihre Ahnen kamen mit den spanischen Eroberern auf die Barriereinsel.

Vor dem Zelt empfängt mich Emma. „Die Ponys sind zum Ozean gelaufen und inzwischen sicher weiter in den Wald“, klärt mich die Frau aus Boston auf. Wie viele andere kam sie hierher, um sich einen Traum aus Jugendtagen zu erfüllen.

Die schwimmenden Wildpferde von Assateague.

Viele vergessen, dass die Ponys hier Wildtiere sind. Weshalb es eine eigene „Pony-Patrouille“ gibt

Kindheitstraum

Erschaffen hat ihn die US-amerikanische Schriftstellerin Marguerite Henry mit dem Kinderbuch „Misty of Chincoteague“, in den USA etwa so wichtig wie „Heidi“ in Europa. Von einer wahren Story inspiriert, erzählt das 1947 erschienene Werk vom Schicksal zweier Kinder, einer wilden Ponystute und deren Fohlen Misty. Handlungsorte sind die Stadt und Insel Chincoteague sowie deren menschenleeres Nachbar-Eiland Assateague, das sich zwei Bundesstaaten teilen.

Der Nordteil liegt in Maryland. Hier fahre ich nun südwärts und erkunde Dünenwanderpfade, Waldwege und Stege über Sumpf und feuchtes Marschland. Von Pferden zunächst keine Spur. Doch plötzlich steht ein braunes Fohlen vor mir – mitten auf der Straße, mustert mein Auto, stöckelt weiter und verschwindet im Gebüsch. Ich parke, steige aus und folge ihm mit Abstand. Durch die dünnen Zweige sehe ich fünf braune und gescheckte Ponys. Autos halten. Leuten laufen auf die Tiere zu. „Bitte treten Sie zurück“, sagt ein Mann in neongrüner Weste.

Es ist Marcus Urioste von der „Pony-Patrouille“. „Vielen ist nicht bewusst, dass es sich um wilde Tiere handelt“, so der freiwillige Helfer. Deshalb sei Distanz so wichtig. Gefährlich ist der Mensch-Tier-Kontakt vor allem für die Ponys. „Sie leiden durch Verkehrsunfälle oder Menschenlebensmittel. Mindestens ein Todesopfer gibt es jedes Jahr“, berichtet Marcus und erinnert an das Fütterungsverbot und das Tempo 20-Limit.

Eine Herde von Chincoteague-Ponys watet durch das Wasser, während Zuschauer auf einer Brücke stehen.

Die schwimmenden Wildpferde von Assateague, USA

Pferde für Brandschutz

Den Südteil Assateagues im Staat Virginia erreiche ich nur übers Festland, da ein Zaun die Insel teilt. Dort lebt die zweite Ponyherde, mit rund zweihundert Tieren deutlich größer und – im Unterschied zu ihren staatlich verwalteten Artgenossen im Norden – im Besitz der Freiwilligen Feuerwehr von Chincoteague. Schon in den 1920er-Jahren hatte ihr die Stadt das Recht erteilt, Fohlen einzufangen und zur Finanzierung von Löschtechnik zu versteigern.

Das Festival, das sich aus dem jährlichen Ereignis entwickelte, zieht immer Tausende Besucher an. Highlight neben der Auktion ist „Pony Swim“. Auf dem Weg von Assateague nach Chincoteague durchquert dabei die Herde aus dem Süden den knapp dreihundert Meter breiten Ozeankanal zwischen beiden Inseln.

Die schwimmenden Wildpferde von Assateague.

Silhouette aus zweihundert Pferdeköpfen, die Ohren spitz nach oben, dazu lautes Schnauben

Salzwasser-Cowboys

Die Nacht ist kurz. Im Morgengrauen laufe ich zur Pony Swim Lane, wo das Publikum schon wartet. Dann endlich: das Signal zum Start. „Saltwater-Cowboys“ treiben die Pferde in das Wasser. Für die meisten ist die Durchquerung des Kanals schon Routine. Zwei Rettungsboote fahren für alle Fälle nebenher.

Von Osten stößt die Sonne durch die weiße Wolkendecke. Im Gegenlicht erscheint die Silhouette aus zweihundert Pferdeköpfen. Sie alleine ragen aus dem Wasser, die Ohren zeigen spitz nach oben. Lauter als die Schwimmgeräusche höre ich das Wiehern, Schnauben. Jetzt nah genug, erkenne ich in den Gesichtern Anstrengung und Aufregung, doch auch das Selbstbewusstsein starker Charaktere. Vom ersten bis zum letzten stolzieren alle Ponys wie Sieger aus den Fluten und schütteln ihre nassen Mähnen.

Nach langen fünf Minuten, die mir wie eine Ewigkeit erschienen, steht die ganze Ponyherde direkt vor uns und stärkt sich mit frischem Ufergras. Morgen ist Auktion.

Danach können die allermeisten Tiere wieder auf die Heimatinsel schwimmen. Ich werde ihnen auf dem Landweg folgen und freue mich schon darauf, sie am Strand zu treffen. Diesmal stehe ich so früh wie Emma auf.

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