
Der Wagram: Nur 40 Minuten von Wien entfernt und doch ein Geheimnis
Auf der Geländestufe Wagram in Niederösterreich gibt es Weinberge, bekannte Winzer und Köche, klare Aromen und Ruhe. Über allem liegt ein Hauch von Alchemie.
Ruhe ist seine Sache nicht. Er ist der Toni Mörwald in – fast – allen Gassen. Auf jeden Fall in Feuersbrunn am Wagram. Hier ein Anruf wegen einer Veranstaltung, dort ein Blick in die Küche – und zwischendurch eine Debatte mit dem Paketboten: Muss der Motor des Autos laufen, wenn es steht?
Aber wenn es um den Wagram geht, dann nimmt er sich Zeit. Der prominente Spitzenkoch ist so etwas wie der inoffizielle Außenminister, Botschafter und Präsident des Wagrams. Stets im schicken Anzug. In dieser Rolle betont er die Vorzüge dieser niederösterreichischen Gegend, wo sich nördlich der Donau eine Geländestufe erhebt: „Wir haben hier eine intakte Landschaft, kaum Strommasten, keine Industriebauten.“
Tatsächlich: An dieser Kante liegen sanfte Hügel, Weinberge, Kellergassen – weitgehend verschont von Fachmarktzentren, Logistikhallen und Plastikzäunen. Und das nicht einmal eine Dreiviertelstunde von Wien entfernt. „Der Wagram ist ein Geheimnis, das so nah ist“, sagt Mörwald.
Welcher berühmte Grüne Veltliner vom Wagram kommt
Erstaunlicherweise ist er immer noch so etwas wie eine Entdeckerregion, auch wenn in Paris die große Rue Wagram zum Triumphbogen führt. Gut, die erinnert an Napoleons Sieg über die österreichischen Truppen bei der gleichnamigen Schlacht, die dann doch bei der Ortschaft Deutsch-Wagram auf dem Marchfeld stattgefunden hat. Doch auch Wein von hier ist weit über die Grenzen Österreichs bekannt. Ob Lokale in New York oder im Indischen Ozean: Sie kredenzen Grünen Veltliner von Bernhard Ott.

Bernhard Ott schätzt die Vorzüge des Lössbodens am Wagram.
©OttDer Winzer sitzt in einem stylischen Verkostungsstudio in Feuersbrunn, vor ihm sein 100-Punkte-Wein im schicken Glas.Der heißt so, weil er bei Verkostungen stets die volle Punktezahl erreicht. „Während meiner Ausbildung bei Giacomo Bologna im Piemont habe ich gelernt: Große Reben bringen großen Wein, und großer Wein funktioniert nicht nur – er funktioniert in zehn von zehn Jahren. Er passt zum Essen, und idealerweise lagern alte Jahrgänge in der Vinothek. Da wurde mir klar: Das ist Grüner Veltliner.“
Das Besondere am Wagram? Der Lössboden mit seinem hohen Kalkgehalt. „Sediment aus den Kalkalpen wurde vom Wind hierher getragen. In Feuersbrunn lagert Löss bis zu 30 Meter hoch. Er speichert Wasser, also muss nicht bewässert werden.“ Ein Vorteil in Zeiten des Klimawandels. Und: „Der liefert feine Präzision und Eleganz, so wie man es aus Chablis oder Burgund kennt.“
Kein Wunder, dass Fans aus aller Welt anreisen. Und bei Ott müssen sie nicht vor verschlossenen Türen stehen. Von Ostern bis Ende Oktober ist sieben Tage die Woche geöffnet.
Bernhard Otts neue Nachbar ist der Shootingstar Nourani
Gleich gegenüber residiert Ferry Nourani, ein Quereinsteiger, der hier als Shootingstar gehandelt wird: Mörwald stellt ihn so vor: „Ferry war Banker, er hätte sich überall einen Weinberg kaufen können, aber er hat sich für den Wagram entschieden.“
Nourani studierte nebenbei Weinbau. Und wie Ott sparte er bei seiner Einrichtung nicht. Sein Schwerpunkt: Grüner Veltliner. Er macht: „Weine, die mir schmecken, nicht für die Masse.“ Er lässt den Weinen Zeit, lange sogar – auf der Hefe. Und: „Ich arbeite wie ein Biobauer. Weil ich so klein bin, lasse ich mich nicht zertifizieren.“
Der Bio-Anteil ist hoch am Wagram. Einer der Pioniere war Fritz Salomon. Vor dreißig Jahren fragte ihn seine Frau Birgit: „Warum schmecken unsere Weine so anders?“ Die Antwort kam knapp: „Weil ich nichts dazugebe.“ Gemeinsam führen sie das Gut Oberstockstall in Kirchberg, erstmals im 12. Jahrhundert urkundlich erwähnt. Ein massiver Komplex mit Gästezimmern, Weingut und einem Haubenlokal, das Bruder Matthias und seine Frau Elke betreiben. In der Mitte des Areals ragt ein gewaltiger Nussbaum in die Höhe.
Der Alchemistenschatz im Gut Oberstockstall
Für Fritz Salomon war das Gelände in seiner Kindheit ein Spielparadies. Selbst die Sakristei der Kapelle gehörte dazu. Als der Boden dort absackte, sah er mit seinem Vater nach. „Im Sand lagen viele bunte Scherben“, erinnert er sich. Archäologen rückten an. Und nach jahrelangem Zusammensetzen stand fest: Der Zehnjährige hatte einen Alchemistenschatz entdeckt – mit 1.000 Objekten das größte Inventar seiner Art.

Das Gut Oberstockstall verfügt über eine gotische Kapelle, Gästezimmer, ein Weingut sowie ein Haubenlokal.
©Niederösterreich Werbung / Maximilian PawlikowskyGeforscht wurde hier in der Renaissance nicht nur nach Gold, sondern nach Metalllegierungen und Münzmetall. Mit Methoden, die für die Zeit Hightech waren. Und nicht etwa in den Alchemisten-Zentren Prag oder Wittenberg, sondern am Wagram. Warum hier? „Das weiß man nicht fix“, sagt Salomon.
Das Alchemistenmuseum in Kirchberg hat zu – und ob es je wieder aufsperrt, ist fast schon eine eigene Wissenschaft. Dafür gibt’s den Alchemistenpark. Keine Vitrinen, sondern eine Permakulturanlage, in der mehr als 200 Obst-, Nuss- und Gemüsearten wachsen. Alte Sorten, vergessene Raritäten, exotische Überraschungen. „Er heißt Alchemistenpark, weil aus scheinbar Unedlem wie Wildobst und alten Sorten etwas Kostbares wird“, sagt Naturvermittlerin Jutta Angerer, die Besucher hier herumführt.
Rasantes im Alchemistenpark probieren
„Probieren Sie“, meint sie, zeigt auf ein paar unscheinbare Beeren. Sekunden später kribbelt es im Mund. „Sichuan-Pfeffer“, sagt Angerer mit einem Grinser. „Der Geschmack bleibt länger.“ Recht hat sie.
3 Kuriose Fakten. Wussten Sie, dass ...
- … es in Paris neben der Avenue de Wagram auch noch eine Metro-Station mit dem Namen Wagram gibt? Doch die verweisen auf die Schlacht von Wagram auf dem Marchfeld.
- … dass es in der Stadt Tulln vor den Toren des Wagrams 27 Kreisverkehre gibt? In einem steht ein Draken-Abfangjäger.
- ... der Rote Veltliner nicht mit dem Grünen Veltliner verwandt ist?
Der Park gehört zum Projekt „Essbare Gemeinde“: In ganz Kirchberg stehen Obstbäume auf öffentlichem Grund. Jeder darf zugreifen. Hinterm alten Gerichtsgebäude hängen Granatäpfel, sogar an der Park-and-Ride-Anlage wachsen Früchte.
Da wollen sich manche offenbar beim Heimkommen den Einkauf sparen: „Manchmal wird da schon zu viel gepflückt“, sagt Angerer.
Hier ist es noch so ursprünglich wie in Rumänien oder im Piemont vor 50 Jahren.
Vom Alchemistenpark ist es nicht weit zur Weinmanufaktur Strobl. Clemens Strobl und sein Sohn Lukas machen Wein, bei dem sie möglichst wenig eingreifen, und haben einen verfallenen Meierhof in ein modernes Weingut verwandelt. Das Architektenteam Destilat erhielt dafür 2021 den German Design Award – für den Mix aus Tradition, Industriecharme und zeitgenössischer Eleganz.
Clemens Strobl ist Quereinsteiger und war Werber in Linz. Für den Wagram hat er sich entschieden wegen der Böden und der Nähe zu Wien. Und: „Am Wagram kann man noch etwas entdecken. In der Wachau war jedes Kind fünfmal. Hier ist es noch so ursprünglich wie in Rumänien oder im Piemont vor 50 Jahren.“

Die Winzer Lukas und Clemens Strobl in ihrem Weingut in Kirchberg am Wagram.
©Ms.foto.groupNeben dem Grünen Veltliner hält er den Pinot Noir für die Sorte schlechthin: „Er ist die heimliche Paradesorte. Der Löss, der Kalkanteil, das Terroir passen perfekt. Wenn man sich mit der Sorte und dem Burgund beschäftigt, hat man gute Voraussetzungen, dass man vom Wagram aus weltweit mitspielen kann.“ Nicht umsonst ist er bei Tim Raue in Berlin gelistet. Der schaute hier auch schon vorbei. Die Strobls laden regelmäßig zu Veranstaltungen für und mit Gastronomen. Verkostungen gibt es gegen Voranmeldung. Erwünscht sind Weinaffinität, Zeit und Aufmerksamkeit.
Essen am Wagram: Gerne Wild
Am Wagram dreht sich vieles um den Genuss – und das heißt nicht nur Wein. Gute Lokale gibt es viele. Typisch für die Region ist Wild. In den Wäldern an der Donau ziehen kapitale Hirsche ihre Runden. Sie sind so beeindruckend, dass sich angeblich sogar italienische Pasta-Produzenten auf die Lauer legen.
Auf den Tellern der Wirtshäuser landet das Wild ohnehin regelmäßig. Berühmt ist der Landgasthof „Zum Goldenen Hirschen“ der Familie Solich. Und in Königsbrunn serviert der „Mann“ mittags schon mal Wild-Ćevapčići.

Wild ist typisch für den Wagram. Weitum dafür berühmt ist der „Landgasthof zum Goldenen Hirschen“ in Bierbaum. Im Bild: ein Hirschrückensteak.
©Miguel DieterichUnd dann ist da noch das Riesling-Beuschel, ein echter Wagram-Exportschlager. Wer hat’s erfunden? Toni Mörwald, vor 35 Jahren in Feuersbrunn. Er motze das klassische Beuschel auf: auf eine Lunge kommen zwei Liter Wein. Heute gibt’s das Gericht in jedem halbwegs anständigen Wirtshaus in Wien. „Viele meiner ehemaligen Köche haben es auf die Reise mitgenommen“, sagt Mörwald.
Als der Koch das Wirtshaus seiner Eltern übernahm, begann er zu bauen. Stück für Stück wuchs der Komplex, den er heute „Vereinigte Hüttenwerke“ nennt. Darin steckt inzwischen alles: sein Sternelokal Toni M., das Restaurant „Zur Traube“, ein Hotel, das zur feinen Relais-&-Châteaux-Vereinigung gehört – und das alte Wirtshaus, wo nach Begräbnissen die Musikkapelle in Tracht zusammensitzt, sich die Winzer treffen und mittags ein Buffet aufgefahren wird.
Toni Mörwalds neuer Gutshof
Das jüngste Projekt: der Gutshof in einem ehemaligen Kaufhaus gleich gegenüber. Oben gibt’s Hotelzimmer und Seminarräume mit Blick über die Dächer von Feuersbrunn, unten eine Weinhandlung und eine Greißlerei mit Produkten aus der Region. Montags glüht der Holzofen – dann ist Pizza-Tag.

Ein Zimmer im neuen Gutshof von Toni Mörwald.
©Gutshof HotelBei all den kulinarischen Versuchungen könnte man glatt vergessen, dass es am Wagram auch einiges zu sehen gibt. Wäre schade. Die Kellergasse in Feuersbrunn zieht sich den Hengstberg hinauf, von oben reicht der Blick bis Schneeberg und Ötscher. In Königsbrunn verstecken sich am Bromberg alte Wasserkeller – Hausbesitzer haben dort einst sprudelnde Quellen in Mauern gefasst.
Der große Stupa an der Wagramkante
In Wagram am Wagram thront der Friedensstupa, Europas größtes buddhistisches Bauwerk. Eigentlich wollte Toni Mörwald an dem Platz mal ein Hotel hinstellen, so schön ist die Lage. Doch er ließ es bleiben. Geholt hat die Stupa Alois Riedl, Bürgermeister von Grafenwörth. Er wollte sie unbedingt – nachdem es andernorts Proteste gab. Später stolperte er über ein gigantisches Immobilienprojekt inmitten eines künstlichen Sees. Die Aufregung um den Ruhepol Stupa ist hingegen längst verrauscht.

Der Friedensstupa ist das größte buddhistische Bauwerk Europas.
©DORIS SCHWARZ KOENIGGrafenegg. In Sichtweite erhebt sich das Märchenschloss, im 19. Jahrhundert inmitten eines 32 Hektar großen Landschaftsparks errichtet. Heute ist es für seine Sommerkonzerte im spektakulären „Wolkenturm“ bekannt. Gerade wird die Alte Reitschule in einen Konzertsaal umgebaut – bald heißt sie Rudolf-Buchbinder-Saal, nach dem Pianisten, der Grafenegg zu einem Fixpunkt des Festspielkalenders gemacht hat.
Grafenegg und noch viel mehr rundherum
Genau genommen liegt Grafenegg gar nicht mehr am Wagram. Aber wer will da so kleinlich sein? Vom Wagram aus ist das Gute und Schöne ohnehin nah. „Wenn du den Zirkel ansetzt und einen 15-Minuten-Radius ziehst, hast du die besten Weinregionen beisammen: Wagram, Kamptal, Kremstal, Traisental, Wachau, Weinviertel“, sagt Mörwald.

Das Schloss Grafenegg mit seinem 32 Hektar großen Park.
©POINT OF VIEW GmbHMittendrin wächst ein Markenzeichen des Wagrams: der Rote Veltliner. Eine autochthone Sorte, die vor hundert Jahren noch die meistangebaute Rebe war, dann aber als zu dünn verschrien in Vergessenheit geriet. Einer, der ihr treu geblieben ist, heißt Josef Bauer aus Großriedenthal. „Würzig, frisch, aber auch gehaltvoll“, beschreibt er den Wein. Eine seiner Flaschen schaffte es vor ein paar Jahren sogar auf die „20 Under $20“-Liste der New York Times.
So steht es um den Roten Veltliner
Bauer hat die Aussichtsplattform auf der Riede Eisenhut initiiert – eine filigrane Eisenkonstruktion, von der man weit über die Region blickt, und die mit ihrem Rostdach selbst bei Regen Schutz bietet. „Das ist das Tüpfelchen auf dem I beim Eisenhut“, sagt er. Mit dem Sommerwetter waren heuer nicht alle zufrieden – für den Roten Veltliner allerdings war es ideal. „Die kühlen Nächte haben dafür gesorgt, dass er sich bestens entwickelt.“ Eine runde Sache, der Geschmack vom Wagram – und mit klarer Kante.
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