Reinhard Haller: "Kränkungen führen zu Kriegen"
Der Mann weiß, wovon er spricht: Reinhard Haller hat als Gerichtspsychiater viele Kriminelle aus nächster Nähe erlebt und sie analysiert. Was diese Menschen zu ihren Taten antreibt, das beschreibt Haller in seinem neusten Buch: "Die Macht der Kränkung". Für Haller sind nicht nur Morde, Vergewaltigungen oder Mobbing die Folge von Kränkungen, die Menschen erlebt haben. Diese Gefühle können sogar zu Kriegen führen, so seine These.
Reinhard Haller:Ein Grund liegt darin, dass Kränkung kein wissenschaftlicher Begriff ist. Das merkt man schon daran, wie schwierig es ist, ihn genau zu beschreiben. Auch in meiner Ausbildung zum Mediziner wurde das Thema kein einziges Mal angesprochen. Im Privatleben ist das Thema ein Tabu, weil es bedeutet, eine Schwäche zuzugeben. Besonders Jugendliche sagen immer, dass sie cool sind, dabei ist meist das Gegenteil der Fall. In meinem Buch erzählte ich von einem amoklaufenden Schüler, der als Grund für seine Tat angibt, dass bei einer Klassenfahrt nach Rom vor acht Jahren keiner mit ihm das Zimmer teilen wollte.
Sie sagen, Kränkungen haben eine politische Dimension.
Ja. Ursula Stenzel hat zwar neulich in einem Interview gesagt: "Kränkung ist keine politische Kategorie." Doch das ist grundfalsch. Die Angst, den Wähler zu kränken, ist häufig die Richtschnur politischen Handelns. Man will Pensionisten, Lehrer, Bauern etc. nicht vergraulen. Mein Ziel ist es, für das Thema zu sensibilisieren.
Bewusst wurde mir das bei meiner Begegnung mit dem Briefbombenattentäter Franz Fuchs. Er war ein gekränktes Genie, der auf Demütigungen überschießend reagierte. Bei ihm haben kleine Handlungen große Folgen gehabt. Das ist ein Grund, warum ich darauf achte, andere nicht zu kränken – auch wenn mir bewusst ist, dass das nicht immer gelingen kann, weil man andere oft unbewusst beleidigt. Auch die Anschläge auf Charlie Hebdo sowie der Absturz der Germanwings-Maschine sind die Folgen einer Kränkungsgeschichte. Und die neuen Medien ermöglichen neue Formen wie etwa das Cybermobbing. Das sind alles hochpolitische Themen, die wir verdrängen.
Sie sehen in Kränkungen auch eine Chance. Wie ist das zu verstehen?
Man lernt sich selbst, seine eigenen sensiblen Punkte näher kennen. Die Kränkung ist die intensivste Form der Empathie, weil ich so lerne, Mitleid und Sympathie mit anderen Menschen zu haben.
Politologen und Historiker werden bestreiten, dass Kränkungen Kriege verursachen können.
Sicher habe ich als Autor die These etwas zugespitzt. Dass die Deutschen und Österreicher die Friedensverträge von Versailles und St. Germain aber als demütigend empfunden haben, ist unbestritten. Ebenso, dass Adolf Hitler dies genutzt hat, um die Menschen an diesem Punkt zu packen.
Das ist sicher nicht einfach. Auch Menschen, die in der Theorie gute Pädagogen und Psychologen sind, machen da häufig Fehler. Eltern sollten hier einfach auf ihren Instinkt vertrauen und das rechte Maß zwischen Fördern und Verwöhnen finden. Wer dem Kind zu wenig Zuwendung schenkt, der macht es zu einem Narzissten – übrigens Menschen, die besonders häufig kränken und besonders leicht gekränkt sind. Überbehütete Kinder werden hypersensibel und haben wenig Frustrationstoleranz. Sie sind ebenfalls besonders schnell gekränkt.
Was haben die Flüchtlingsströme mit Kränkungen zu tun?
Die Flüchtlinge sind oft nicht nur gekränkt, sondern sogar traumatisiert. Als kränkend erleben sie es, wenn sie nicht gastfreundlich aufgenommen werden – Gastfreundschaft wird in ihren Ländern groß geschrieben. Auch für die Europäer ist die Sache schwierig, weil sich viele fürchten, dass ihnen Ressourcen und Arbeitsplätze weggenommen werden. Auch das ist eine Kränkung.
Ich zitiere gerne den Physiker Stephen Hawking, der gegen Ende seines Lebens zum Schluss kommt, dass das Überleben der Menschheit ganz wesentlich von der Weiterentwicklung der Empathie abhänge. Es ist vielleicht eine pathetische Botschaft: Mitgefühl zu zeigen ist überlebensnotwendig.
Kränkungen gehören zum Leben. Jeder Mensch kränkt und wird gekränkt. Gefährlich wird es, wenn dieses Gefühl das Leben eines Menschen bestimmt und es so beeinträchtigt. Dabei kann jeder selbst etwas dazu beitragen, um sich von dem negativen Gefühl zu befreien. Wie, das sagt Reinhard Haller in seinem neuen Buch.
Sein Rat: "Nehmen Sie die Lufthoheit über das Geschehen ein. Schauen Sie von außen auf das, was Sie als Bosheit wahrnehmen, betrachten Sie die Situation also einmal von außen. Dabei hilft Gelassenheit: Es liegt nämlich an ihrer Einstellung, wie sie mit der Sache umgehen. Die größte Beleidigung trifft ins Leere, wenn Sie ihr keine Bedeutung beimessen." Oft hilft auch ein offenes Wort, denn manchmal weiß der Kränkende gar nicht, was er mit seinen Worten anrichtet. "Es ist geradezu das Wesen von Verletzungen, dass sie sich ein Stück weit im Verborgenen entfalten. Wenn man negative Emotionen zur Sprache bringt, verlieren sie manchmal an Schärfe und Brisanz."
Über sich selbst lachen
Wie Menschen auf Beleidigungen, Schmähungen und Demütigungen reagieren, ist recht unterschiedlich: Die Reaktionen reichen von Zorn über Wut, Rachegelüste oder Schweigen. "So ist der Gekränkte der Situation ausgeliefert. Dabei verzichtet er auf eine wunderbare, gesunde Alternative, den Humor. Den fürchten besonders die Narzissten, die ja Meister der Kränkung sind." Humor sei eine Gabe, die in jedem steckt, glaubt Haller. Allerdings: "Wir lassen sie nicht immer zu."
Wer lachen kann, kann auch loslassen: "Werfen Sie den alten Ballast ab und grübeln Sie nicht darüber, was war und wer sie gekränkt hat. Das führt nur zur Verbitterung." Glücklich ist, wer es schafft, dem zu vergeben, der einen erniedrigt und beleidigt hat. Davon profitiert man selbst mehr als der Peiniger: Wer vergibt, hat weniger Stresssymptome wie Verspannungen, Bluthochdruck oder Kopfschmerzen.
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