Netflix-Film "To the Bone": Wird Magersucht verherrlicht?
Blaue Flecken an der Wirbelsäule, starke Behaarung an den Armen und vor allem: Knochen, die sich auf dem ganzen Körper abzeichnen. In "To the Bone" wird das Krankheitsbild einer anorektischen Frau erschreckend realistisch nachgezeichnet. Schauspielerin Lily Collins, die in der Hauptrolle die 20-jährige Ellen spielt, musste – und wollte – unter ärztlicher Aufsicht abmagern, um möglichst glaubwürdig zu wirken. Mit dem Film, der exklusiv für Netflix produziert wurde, erzählen Collins und Regisseurin Marti Noxon auch ein Stück weit ihre eigenen Geschichten – und stoßen damit bereits wenige Tage nach der Veröffentlichung am 14. Juli auf heftige Kritik.
Nach der umstrittenen Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" wird nun erneut befürchtet: Der Film verharmlost ein ernst zu nehmendes Thema und könnte Jugendliche eher zur Nachahmung motivieren, als abschreckend zu wirken. Auch Wiener Expertinnen sehen die Produktion kritisch. Die Gefahr: Das Bild der hungernden Ellen könnte auf gesunde Menschen zwar dramatisch wirken, anorektischen Frauen könnte es aber als Vorbild dienen.
"Manche Klientinnen sagen, sie vergleichen sich sofort mit Bildern, die sie sehen", erklärt Rahel Jahoda, psychotherapeutische Leiterin von intakt, Therapiezentrum für Menschen mit Essstörungen. "Es gibt aber auch Mädchen, die es vielleicht dazu bringen könnte, mehr über die Folgen einer Magersucht nachzudenken, wenn sie erst am Beginn stehen." Generell lassen sich die Auswirkungen des Films auf Betroffene nicht pauschalisieren, ist Jahoda überzeugt. Wichtig sei eine damit einhergehende Aufklärung über die Krankheit. Eine solche hat auch Collins gefehlt. Sie hat in jungen Jahren selbst unter einer Essstörung gelitten. Durch die Therapiesitzungen im Film habe sie die Krankheit zum ersten Mal auch privat reflektiert, erzählt sie in Interviews.
Im Film wird die toughe Ellen von ihrer Stiefmutter in Unterwäsche fotografiert, um ihr vorzuführen, wie zerbrechlich und dünn sie geworden ist. Ihre schockierte Reaktion in der Szene sei echt gewesen, so die Schauspielerin. Für Psychotherapeutin Katharina Klinger ein typisches Verhaltensmuster: "Anorektische Frauen haben eine andere Wahrnehmung. Sie sehen sich selbst nicht so dünn, wie sie sind. Manchmal können alte Fotos ein Bewusstsein für die Krankheit schaffen." Doch die realistische Produktion könnte laut Klinger für Betroffene eher kontraproduktiv sein: "Kranke würden sich eher Maßnahmen oder Tricks abschauen, als von den negativen Folgen zu lernen." – Und diese sind nicht nur körperlich: "Betroffene ziehen sich zurück und isolieren sich. Auch die Gehirnleistung nimmt ab", weiß Jahoda.
In der Regel entstehen Essstörungen in der Pubertät, teilweise schon im Volksschulalter. Eine große Rolle dabei spielen soziale Netzwerke, darin sind sich die Therapeutinnen einig. Zwar müsse man laut Jahoda stets zwischen Auslöser und Ursache unterscheiden – "Facebook, Instagram und Co. können aber das Aufkommen einer Essstörung durch das darin verbreitete, makellos retuschierte Schönheitsideal unterstützen. Es wird ein großer Druck auf junge Frauen und Männer ausgeübt."
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