Wenn Elvira Stein beruflich schreibt, sitzt sie nicht am Tisch. Sie steht auf einer Leiter. Dort bleibt sie dann und leistet echte Hand-Arbeit. Freihändig erscheinen Wort für Wort Speisen, Getränke und Beschreibungen nebst Preisen in weißer Schrift auf schwarzen Wandtafeln.
Die Wiener Grafikdesignerin hat sich auf Lettering spezialisiert. Mit der Beschriftung von Comic-Sprechblasen – so wurde der Begriff (abstammend von englischen letter = Buchstabe) ursprünglich verwendet – hat Stein freilich nichts zu tun. Sie zeichnet vielmehr – ganz im heutigen Sinn des Wortes – Buchstaben und formt sie zu ausdrucksstarken Wörtern. Stil und Inhalt sollen übereinstimmen. Stein selbst spricht am liebsten von "Handbeschriftungen – das trifft es für mich am besten". Auf jeden Fall sei es eine "sehr angewandte Technik, irgendwo zwischen Grafik und Kalligrafie". Gerade in der Kalligrafie, der Kunst des händischen Schönschreibens etwa mit Feder oder Pinsel, gibt es eine sehr lange Tradition. In westlichen Kulturen zeigt sie sich in der mittelalterlichen Schreibkunst, in östlichen Kulturen ist sie in japanischen, chinesischen oder orientalischen Schriften überliefert.
Mehreren bekannten Wiener Lokalen – von "Joseph Brot", dem "Hafenjungen", "Le Salzgries Paris" bis zum "Stadtboden" – hat die 32-Jährige in den vergangenen Jahren mit dieser Technik schon ihre persönliche Handschrift verpasst. Eine Aufgabe für den Profi, denn so erklärt Stein: "Jeder Ort ist anders, hat seine spezielle Atmosphäre. Die Schriften und Illustrationen sollen das verdeutlichen."
Digital versus analog
Damit macht die Schönschreiberin einen Trend auch öffentlich sichtbar, die Gegenbewegung zum digitalisierten Alltag mit Tablets, Apps und Infoscreens nimmt buchstäblich Form an. Denn auch Grafiker, die mit ihrer Arbeit diesen Begleitern den Alltags erst ihren Look verpassen, arbeiten gern mal analog. Typografie – also der Gestaltungsprozess mit Schriften und Bildern – ist nicht alles. Im Grafik-Bereich wechseln einander verschiedene Moden ab. "Wir hatten es lange nur mit digitaler Gestaltung zu tun. Vielleicht ist es eine Reaktion auf die stark digitale Ausrichtung unseres Berufs, sich wieder händisch Produziertem zuzuwenden. Da steckt viel Persönliches drin."
Ebenso werden die verwendeten Werkzeuge auf den jeweiligen Ort abgestimmt. Stein arbeitet am liebsten mit weißen Kreide- oder Lackstiften auf schwarzen Tafeln. "Ich mag diese klaren Kontraste einfach."
Charakter
Für Michael Hochleitner, Mitbegründer des Wiener Grafikbüros Typejockeys, haben schöne Schriften einen eigenen Charakter. "Das Besondere an Lettering ist, dass für jeden Buchstaben die schönste Lösung gesucht werden kann." Das vierköpfige Grafik-Team hat sich auf Schriften spezialisiert. "Manchmal sieht es bewusst sehr handgemacht aus, manchmal wird die Perfektion auf die Spitze getrieben." Im Vergleich zur klassischen Handschrift müsse auch nicht jeder Buchstabe mit seinem Nachbar kombinierbar sein. "Es ist eine Illustration des einzelnen Buchstabens. Man feilt so lange, bis es passt."
Während viele Unternehmen selbstverständlich auf Lettering-Experten setzen, um ein Corporate Design mit Wiedererkennbarkeit zu schaffen, sind sich Konsumenten dieser schriftlichen Feinheiten oft gar nicht bewusst. Da wirkt ein Schriftzug, ein Buchcover oder ein Logo einfach in sich stimmig, harmonisch und perfekt. Oder auch nicht. Etwa die Leseschrift eines Buches. "Wenn einem während des Lesens ein Buch nicht gefällt, kann das nicht nur am Inhalt, sondern auch an der Schrift liegen."
Schildermaler
Die Typejockeys sehen sich ein wenig in der Tradition historischer Schildermaler. "Sie haben für ihre Auftraggeber von Hand schöne Schriftzüge gezeichnet und gemalt", erklärt Hochleitner. Und schon damals wollten die Auftraggeber die Aufmerksamkeit der Passanten auf ihre Geschäfte und ihre Produkte lenken. Die Anfänge des Lettering ortet der Grafikdesigner aber noch wesentlich früher, nämlich in den Inschriften auf antiken, griechischen Säulen. "In irgendeiner Form hat es Lettering wohl schon immer gegeben."
Spätestens wenn Do-it-yourself-Anleitungen kursieren, ist ein Trend an der Basis angekommen. Das ist auch beim Lettering so. Der Trend hat nun – nach Asien und den USA – Europa erreicht. Und immer öfter tauschen sich Hobby-Künstler abseits der Profi-Schiene über ihre Erfahrungen aus.
Manche erinnert die gestalterische Arbeit sogar ans Schönschreiben in der Schule. Zumal das sogenannte „Hand Lettering“ mit Feder und Tinte ausgeführt wird. Ob mit Feder, Kreide oder als Aquarell – ein wenig bleibe die Tradition des Schönschreibens lebendig, meint die Lettering-Spezialistin und Grafikdesignerin Elvira Stein.
Wer Lettering privat als kreatives Hobby betreibt, kann aus einer Fülle von Anleitungen im Internet oder aus Büchern wählen. Dass dafür etwas Übung nötig ist, betont auch die US-Künstlerin Gabri Joy Kirkendall. „Es gibt unzählige Möglichkeiten, schönes, ausdrucksstarkes Lettering hervorzubringen.“ Fast jedes Werkzeug sei möglich. „Experimentieren Sie einfach“, rät sie.
BuchtippG. Kirkendall, L. Lavender, J. Manwaring & S. Panczyszyn: Kreatives Lettering und mehr. mgv-Verlag, 17,50 €.
Kommentare