Hirn oder Bauch? Muss es überhaupt „oder“ sein?

Teaser-Foto von einer Performance in der U2/U4-Station Schottenring
Tanztheaterstück „KörperVerstand“ spielt mit dem Gegensatz von Gefühlen und Geist. Seit Mitte Jänner im Dschungel Wien.

Update 12. Jänner 2017, 16.31 Uhr: Kritik vom Stück, noch keine Szenenfotos.

KÖRPER – in schwarzer Schrift auf weißem Stoff hängt über einer Seitenwand des kleineren Saals im Theaterhaus Dschungel Wien im MuseumsQuartier. Gegenüber an der anderen Wand: VERSTAND – weiße Schrift auf schwarzem Stoff. Das Publikum sitzt auf – leider quietschenden – Bänken links und rechts an den Wänden. In der Mitte ganz vorne ein Musiker mit Keyboard und Laptop. Bevor Markus Jakisić Musik macht, stellt er (sich) Fragen über Gefühl und Vernunft.

Als er bereits musiziert betritt aus der gegenüberliegenden Tür die Tänzerin Maartje Pasman in weißer Hose und schwarzem T-Shirt mit zartem weißem Spritzmuster den weißen Tanzboden, bleibt in unmittelbarer Nähe vor Zuschauern ungefähr in der Mitte der Längsreihe stehen und beginnt zunächst mit kleinen, langsamen Bewegungen. Die bleiben rund, auch als sie größer und schneller werden.
Moritz Lembert, Tänzer in gegengleichem Outfit (schwarze Hose, weißes Shirt mit schwarzen Spritzern), vollführt eher eckige, zackige Tanz- und Arm- bzw. Handbewegungen. Und er spricht von den Vorzügen von Verstand, Ordnung, Vernunft. Die Tänzerin hebt die Vorteile von Gefühlen hervor. Lebst du nicht nur dort, wo du fühlst?

Erste Annäherung

Hirn oder Bauch? Muss es überhaupt „oder“ sein?
Teaser-Fotos von einer Performance in der U2/U4-Station Schottenring
Nach rund zehn Minuten beginnen beide parallele Bewegungen – erste wenngleich noch räumlich sehr entfernte – Annäherungen nach dem anfangs sehr, sehr separierten Agieren. Zunehmend bekommt die Aufführung Text, Fragen, Haltungen, Philosophieren über die beiden Seiten, die Mensch-Sein ausmachen. Der Text kommt fließend auch während der ärgsten akrobatischen Verrenkungen und niemals gepresst oder sonst irgendwie beeinträchtigt. Das sei übrigens eine der schwierigsten Dinge im Probenprozess gewesen, gestehen beide nach der Vorstellung im Publikumsgespräch mit den Besucher_innen: Tanz und Text ohne zweiteren unterzuordnen. Das sei auch DAS Neue, das der junge Verein „KörperVerstand“ auf die Bühne bringen wolle, so Regisseurin und Choreografin Steffi Jöris. Weshalb auch das erste Stück genau gleich heiße und dieses Spannungsfeld zwischen Gefühlen und Instinkten einerseits und dem Verstand, der Vernunft andererseits thematisiert.

Große Nähe

Zurück zur Aufführung: Nach rund einer halben Stunde überraschen, verblüffen, erschrecken Tänzerin und Tänzer so manche im Publikum durch besondere Nähe. Danach beginnen beide jeweils für sich – natürlich öffentlich – zu überlegen, fragen und sich entsprechend tänzerisch zu verhalten, ob nicht auch Elemente des anderen brauchbar wären: Vernunft bei Gefühlen bzw. letztere überhaupt zuzulassen? Das Gefühl lässt – bewegungsmäßig – den Verstand minutenlang nicht mehr aus – klammert sich an, auf, über, unter ihn. Hin und wieder erträgt die „Gefühls“-Tänzerin auch den verkopften Tanzpartner.

Der Musiker meldet sich wieder zu Wort: ist es nicht wie bei einer Münze, die auch beide Seiten braucht? Und dass er gar nicht entscheiden wolle, was wichtiger sei...

Video-Interviews relativieren Rollenklischees

Hirn oder Bauch? Muss es überhaupt „oder“ sein?
Teaser-Fotos von einer Performance in der U2/U4-Station Schottenring
Bevor das rund einstündige Stück zu Ende ist, tauchen auf den Boden eingeblendete Videos von jungen Frauen und Männern zu diesem Thema auf, das wohl (fast) jede und jeden meist täglich in der einen oder anderen Entscheidung bewegt: Soll ich meinem Herzen/Bauch oder meinem Geist/der Vernunft folgen?! Das Einblenden auf den Tanzboden integriert die Video-Aussagen sozusagen mitten ins Geschehen. Und diese unterschiedlichen Statements relativieren auch die im Stück zu stark geschlechter-klischeehafte Verortung Gefühl/Frau, Verstand/Mann.

Komm her! Geh weg! Begreifen, be-greifen?! Spüren oder verstehen? Neben den Jahrtausende gültigen gleichen, auch auf Bühnen verhandelten Themen über große, grundlegende Gefühle wie Liebe, Hass, Tod, Trauer, Mit- oder Gegeneinander bzw. jenen über Macht, Intrigen, Herrschaft bzw. Auflehnung spielt immer wieder auch der Gegensatz/Widerspruch bzw. das Zueinander-Finden von Gefühlen und Gedanken eine wichtige Rolle. Pur, teils roh, stehen die beiden Seiten menschlichen Wesens im Zentrum des TanztheaterstücksKörperVerstand“, das in der zweiten Jänner-Woche im DschungelWien startet. Hirn oder Bauch? Herz oder Kopf? Ich oder ich? Und muss es ein oder sein?

Gegen-/miteinander?

Hirn oder Bauch? Muss es überhaupt „oder“ sein?
Teaser-Fotos von einer Performance in der U2/U4-Station Schottenring
Maartje Pasman und Moritz Lembert tanzen – in der Regie und Choreografie von Steffi Jöris - den Widerspruch zwischen spüren, fühlen usw. auf der einen sowie den Fragen nach dem Sinn des Lebens im allgemeinen und jenem konkreter Handlungen im Besonderen faszinierend, beeindruckend, richtiggehend nachvollziehbar – nicht nur mit dem Verstand. Der Tanz, die Bewegungen sowohl gegen- als auch miteinander dominieren. Nach und nach mischen sich – oft vom Musiker-Pult aus – gesprochene Wörter und Sätze über Gedanken aber ebenso über Gefühle in die bewegten Szenen. Gefühle an sich heranlassen? Über Gefühle nachdenken – geht das überhaupt? Kann falsch sein, was man fühlt? Schützt Vernunft vor Gefühlen? Kann sie das? Soll sie das? Müssen die beiden gegeneinander kämpfen? Können sie miteinander auskommen? Auf gleicher Ebene, oder nur über- oder untergeordnet?

In manchen Phasen berühren die Tänzer_innen das Publikum im wahrsten Sinn des Wortes. Ein Manko drängt sich nach einem Probenbesuch auf: Obwohl alle Beteiligten sich dessen bewusst waren und genau das vermeiden wollten, entspricht manches gängigen Klischees: Die Gefühlsseite wird stark von der Tänzerin, die Verstandesseite vorwiegend vom Tänzer verkörpert ;(

KörperVerstand
von Körperverstand. Tanztheater Wien
ca. 60 Minuten, ab 14 Jahren

Konzept: Steffi Jöris, Anna-Luise Braune
Regie, Choreografie: Steffi Jöris
Text, Regieassistenz: Anna-Luise Braune

Tänzer_innen: Moritz Lembert, Maartje Pasman

Dramaturgie: Klara Rabl
Komposition, Musik: Markus Jakisić
Ausstattung: Claire Blake
Licht: Hannes Röbisch

Wann & wo?
Bis 27. Jänner 2017
20. bis 23.März 2017
Dschungel Wien: 1070, MuseumsQuartier
Telefon: (01) 522 07 20-20
www.dschungelwien.at

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