Hier fehlt noch wer!

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Jugendliche diskutieren mit Fachleuten über den Umgang mit Vielfalt und Unterschiedlichkeit.

Update: 28. August 2019, 20.22 Uhr: Der Beitrag einer (damaligen) Schülerin wurde - auf deren Wunsch - entfernt.

Vielfalt, Diversität, Inklusion – unmöglich oder sollte das schön langsam, da Realität, einfach gelebt, statt in Frage gestellt werden? Kürzlich diskutierten mehr als 250 Schülerinnen und Schüler mit Fachleuten verschiedenster Professionen im Wiener Radiokulturhaus dazu bei der Reihe Standpunkt (einer Veranstaltung von KURIER, ORF-Radio und Bildungsministerium).

Nachbericht

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Franz-Joseph Huainigg, Kabarettist, früher in der Medienpädagogik-Abteilung im Unterrichtsministerium und dort an der Initiierung von Schülerradio und der Diskussionsreihe Standpunkt beteiligt, ist seit 2002 Nationalratsabgeordneter (VP): Behinderte Menschen brauchen kein Mitleid. Nicht behinderte Menschen gehen oft komisch, gehemmt um, wenn sie Behinderte treffen. Normale Begegnung kann man nur lernen, wenn miteinander in den Kindergarten, Schule und arbeitet. Als selber in die Schule gekommen, Integration noch ein Fremdwort. Es hat sich viel geändert, in fast jeder Volks- und Neuen Mittelschule gibt es Behinderte, aber es geht darum weiter zu gehen – von der Integration zur Inklusion. Auch für Abgeordnete ist es wichtig, dass es behinderte Kollegen gibt. Das Nebeneinander von Schulen ist das teuerste, aber nicht das beste System.

Rüdiger Teutsch (Ministerum für Bildungs- und Frauen, Leiter Diversitäts- und Sprachenpolitik, Sonderpädagogik, inklusive Bildung): Wir brauchen kein Parallelsystem von Sonder- und Regelschule, sondern optimale Qualität für alle Schülerinnen und Schüler. Und wir brauchen das Miteinander – das ist Teil der pädagogischen Qualität. Die Perspektive ist eine Schule für alle. Wichtig ist, Schülerinnen und Schüler von Anfang an individuell zu fördern. Das ist nicht leicht in einem System, das stark kategorisiert. Aber es geht darum in Teams und gemeinsam Verantwortung für Vielfalt zu tragen.

Münire Inam (ORF-Redakteurin), kam mit 6 Jahren nach Wien – „im August, im September bin ich in die Schule gekommen, ohne Deutsch zu können. Das war schon hart. Ich war nur ein Monat im Kindergarten. Meine Mutter konnte Deutsch und hat es mit mir gesprochen. Bis Weihnachten konnte ich es dann. Trotzdem wollte meine Lehrerin mich nicht aufs Gymnasium schicken, aber meine Mutter war sehr dahinter.

Ibrahim Amir, Arzt und (Theater-)Autor: In meinem Beruf habe ich mit vielen Leuten zu tun, die andere kulturelle Hintergründe, manchmal sogar ein anderes Schmerzempfinden haben. Wir wissen oft wenig über die Menschen, die neben uns leben. In der Medizin werden wir darauf aber gar nicht vorbereitet.

Schülerinnen und Schüler

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Barbara Mikitschkavon der Kindergartenpädagogik in Wien 10: Wir waren oft in integrativen Kindergartengruppen. Die Kindern lernen dort sehr, sehr viel voneinander. Kinder sehen oft die Behinderung anderer gar nicht gleich. Es sollte viel mehr Integrationsgruppen geben – sie sollten zur Norm gehören.
Michaela Fricek, Lehrerin an der Berufsschule für Verwaltungsberufe: Ich würde gern zu zweit unterrichten - unterschiedliche Schülerinnen und Schüler. Man könnte dann auf Schülerinnen und Schüler persönlich eingehen.

David Sultana (BRG 4): Ich war in der Volksschule in einer Integrationsklasse - mit zwei Lehrerinnen. Das hat gut funktioniert. Einer im Vordergrund, der andere geht auf einzelne Kinder ein, die gerade mehr brauchen.

Tamás Fodor (BORG 3): Ich bin seit vier Jahren in Wien und hab erst hier Deutsch gelernt. Aber als ich mich beim Stadtschulrat angemeldet habe, hieß es: „Ausländer geht in die „Ausländerschule“… G’scheit Deutsch hab ich so erst im Gymnasium gelernt.

Christine Wallisch (ORG Komensky): Wir haben Schülerinnen und Schüler, die Tschechisch, Slowakisch und einige auch Ungarisch reden, aber manche bemühen sich gar nicht, Deutsch zu lernen.

Interkultureller Unterricht

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Barbara Mitischka(BA für Kindergartenpädagogik, Wien 10): Wir haben in unserer Schule das Fach Interkultureller Unterricht – da reden wir über verschiedene Kulturen, Religionen, welche Feste gefeiert werden, welche Grenzen es gibt…. Wir sind aber eine der wenigen Schulen. Warum wird das nicht in mehr Schulen angeboten?

Matthias Kluger (BAKip 10): In Schulen schon ziemlich viel zu Ausländern gemacht wird, find aber schade, dass nicht gehinderte Kinder mehr integriert werden,. Passiert oft, dass sie als eigene Kategorie abgestempelt werden…

Daniel Bivoveć (ORG Komensky): Ich hinterfrage sehr vieles und hier, was durch diese Diskussion bezweckt werden soll und warum sie nicht für breite Masse gemacht. Nur für …

David Sultana (BRG 4): Integration ist nicht nur eine Frage der Regelungen, sondern auch davon, wie Menschen damit umgehen.

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Tijana Marinković(NMS Schopenhauerstraße): Wir haben auch Muttersprachen-Lehrer_innen für Türkisch und Bosnisch/Kroatisch/Serbisch und das find ich sehr wichtig.

Alexandra Piotrowicz (BORG 3): Als kleines Kind habe ich zu Hause nur Polnisch gesprochen und sollte und wollte erst im Kindergarten Deutsch lernen. Aber die Pädagogin hat mich einfach nicht akzeptiert.

Stefan Ivessa (BORG 3): Es ist sicher schwierig für einen Deutsch-Professor, wenn wer neu mit einer ganz anderen Sprache kommt.

Ibrahim Amir: Tolerieren ist gar nicht nur aus humanitären Gründen, sondern schon aus ökonomischen Gründen wichtig. Wir müssen alle lernen, dass wir alle voneinander abhängig sind. Und es geht darum, Neuen Möglichkeit anzubieten, sich zu entfalten.

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Münire Inam: Es geht darum, die Bedingungen in diesem System mitzumachen, für alle gleich zu machen. Wenn wer nicht das Glück hat, Eltern oder Lehrer_innen zu haben, die einen fördern, dann hat man Pech gehabt. Das sollte aber nicht dem Glück überlassen werden. Schön langsam ist es an der Zeit, nicht von Toleranz zu reden, sondern von Respekt. Es geht nicht darum, etwas für „die Ausländer“ tun, diese Menschen, die hier aufgewachsen sind, sind Teil dieser Gesellschaft und wir müssten das als selbstverständlich sehen, dass jeder anders ist.

Rüdiger Teutsch: Im jetzigen Schulsystem haben wir einen Begriff von Leistung, der zu stark abprüfbares Wissen verlangt. Im Berufsleben sind aber Kreativität, Selbstbewusstsein, Arbeit in Teams, Respekt, Umgang mit Widersprüchen gefragt – lauter soziale Fähigkeiten, die in der Schule erst in zweiter Reihe behandelt werden. Wir müssen Leistung viel individueller sehen, auch was die Sprachen betrifft.

Franz-Joseph Huainigg: Auch die Gebärdensprache ist eine wichtige Muttersprache, es gibt nicht viel, aber doch wenigen bilingualen Unterricht. Und es gibt ganz wenige bis praktisch keine Lehrer_innen im Rollstuhl, die blind oder gehörlos sind – das würde aber auch zu einer inklusiven Schule gehören.

Paul Höfl (Wiedner Gymnasium): Vielleicht könnte man in der Schule ein bisschen in jede Sprache reinschnuppern, um einen Dialog zu führen, vielleicht auch in die Gebärdensprache.

David Djurić (BundesBlindenInstitut): Wir haben ein zu stark prüfungsausgerichtetes System. Ein paar Wochen nach der Prüfung ist vieles oft vergessen.

Miteinander statt ausgrenzen

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Jeanine Skrabal(BAKip 10): Wir sollten uns überlegen, wie wir agieren und kommunizieren, leider gibt es oft gegenseitiges Ausgrenzen – oft von sogenannten Freunden. Wenn wir anfangen, uns selbst gegenseitig in den Klassen zu akzeptieren, wäre alles viel leichter.

Barbara Kusebach (ORG Komensky): Ich gehe erst seit ungefähr einem Jahr in diese Schule und habe seither sowohl mein Tschechisch als auch mein Deutsch stark verbessert. Wir helfen uns in der Schule auch gegenseitig in den jeweiligen Sprachen viel. Und ich finde, es wäre gut, in mehr Schulen mehr Sprachen anzubieten, weil das für unsere Zukunft sicher wichtig ist.

Johannes Weberndorfer (Wiedner Gymnasium): Miteinander ist neben Leistung auch wichtig, auch fürs spätere Berufsleben. Und da ist es sicher auch gut, mehrere Sprachen zu können.

Evita Schillein (ORG Komensky): Ich finde, wir können keine gemeinsame Zukunft aufbauen, wenn wir all die Angebote, die es gibt, nicht nutzen.

Marlene Alesch (BAKip 10): Wenn wir nur für Prüfungen lernen ist kurz danach nichts mehr da. Aber in Didaktik und Pädagogik, das viel mit Praxis verbunden ist, fällt das Lernen viel leichter. Der Unterricht sollte mehr lebensorientiert sein.

Stephanie Schindlauer (Berufsschule Handel und Reisen): In Berufsschulen haben wir oft nur Lehrer mit Berufserfahrung und wenig pädagogischer Ausbildung.

Münire Inam: Keine Frage, dass unsere gemeinsame Sprache Deutsch ist, aber ich höre immer wieder das Gerücht von Schülern, die die Schule positiv abschließen und kein Wort Deutsch können. Ich möchte gerne einmal einen Beitrag über so einen Schüler mache, aber ich suche und finde keinen.

Sarah Jasmin Örün (BORG 3): Wirklich einen, der mit gar keinen Deutschkenntnissen durch die Schule kommt, kenne ich nicht, aber in der Mittelschule hatten wir einen, der bevorzugt durchgelassen wurde, aber er hatte es dann eben danach schwerer.

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David Sultana(BRG Waltergasse): Wenn wer gar nicht Deutsch kann, der kriegt doch vom ganzen Unterricht nichts mit.

Tamás Fodor (BORG 3): In der KMS hatte ich einen Klassenkameraden, der kein Wort Deutsch konnte.

Vanessa Zechner (BORG 3): In der 2. Klasse KMS hatten wir eine Schülerin, die aus Russland gekommen ist und kein Wort Deutsch konnte, aber heute kann sie’s besser als ich. Ich glaub, die werden nicht bevorzugt.

Linda Lengauer (Wiedner Gymnasium): Ich glaub, dass man nicht wirklich weiß, wie man mit Schüler_innen umgehen soll, die nicht wirklich Deutsch können.

Lara Adamović (Berufsschule Verwaltungsberufe Castelligasse): Wie kann ein Lehrer jemanden weiter durchlassen, der die Sprache nicht kann.

Kristina Krzan (ORG Komensky): Jedes Jahr kommen Schüler_innen aus Tschechien und der Slowakei, die nicht Deutsch können, manche schaffen es in zwei Jahren, andere brauchen länger.

Jeremias Gerzabek (BRG 4): Es ist nicht Schuld von Lehrern und Direktoren, sie könnten ja auch denken, dass Schüler es im nächsten Jahr schaffen, und vielleicht tut sich jemand ja nur in Deutsch schwer.

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Rüdiger Teutsch: Wir haben im Schulsystem wenig Empathie für Menschen mit Behinderungen oder für Flüchtlinge. Wir haben fast keine Lehrer_innen, die Behinderungen haben und auch fast keine Lehrer_innen, die migrantischen Hintergrund haben…
Wir bräuchten auch so etwas wie das Angebot: Du gehörst zu uns… In Venezuela herrscht zum Beispiel bei Austauschschülern eine Willkommenskultur: Unsere Gesellschaft muss lernen, Vielfalt zu nutzen – das hieße auch Vielfalt auch im Lehrerzimmer.

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Franz-Joseph Huainigg: Es gibt einen Spruch von Behinderten: Nichts für uns ohne uns! Bisher sind nicht einmal in die Lehrerausbildung Behinderte aufgenommen worden, in der Lehrerbildung Neu ist das schon vorgesehen. Sonderschulen sind voll mit Kindern mit Migrationshintergrund. Kinder mit Sprachdefiziten als Behinderte eingestuft.

David Lučić (NMS Schopenhauerstraße): Ich gehe in eine Integrationsklasse, unsere Lehrerin fordert uns immer auf, mehr zusammen zu arbeiten. Das hilft uns in der Schule aber auch im späteren Leben.

Lola Heger (NMS Schopenhauerstraße): Es ist schon schwer, aus einem anderen Land zu kommen. Es wäre gut, genug Unterstützung zu haben, dass man in jeder Schule lernen kann.

Marlies Asvanyi (BORG 3): Ich kann mir nicht vorstellen, dass wirklich wer ganz ohne Deutsch durch die Schule gelassen wird.

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Stefan Ivessa(BORG 3): Für all diese Aufgaben würde es aber viel mehr Lehrer brauchen.

Christine Wallisch (ORG Komensky): Es ist immer auch abhängig davon, wie sich jemand bemüht oder nicht.

Jan Hýsek (ORG Komensky): Wenn bilinguale Kinder später Zivildienst machen und vielleicht in einem Kindergarten arbeiten, kann das ganz praktisch sein.

Adam El-Hamatam (Wiedner Gymnasium): Weil gesagt wurde, dass Kreativität… oft erst an 2. Stelle im Schulsystem kommt, wie sollte so was denn abgeprüft werden?

Johanna Lipp (Wiedner Gymnasium): Ich glaube kaum, dass Schüler, die nach Österreich kommen, nicht Deutsch lernen wollen.

Moritz Molnar (BAKip 10): Ist nicht ein Schulsystem das stark auf Norm orientiert ein totaler Widerspruch zu Inklusion, wo es um ein Miteinander vieler geht, die nicht der Norm entsprechen?

Alle profitieren

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Franz-Joseph Huainigg: Es war eine sehr spannende Diskussion: Meine Tochter (12) ist nicht behindert, aber geht in eine Integrationsklasse. Ein ehemaliger Mitschüler hat jetzt Probleme in seiner neuen Schule. Da hat sie gesagt, er soll doch einfach zu uns in die Klasse kommen. Wahrscheinlich verstehen ihn die anderen Mitschüler nicht. Das zeigt, auch viele Nicht-Behinderte profitieren von Inklusion, weil dabei das Miteinander selbstverständlich ist.

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Ibrahim Amir: Es ist unsere Pflicht, derjenigen die Deutsch können, jene zu unterstützen, die es (noch) nicht können. Als Mehrheit, müssen wir der Minderheit unter die Arme greifen. Ich glaube nicht, dass Menschen von Grund auf faul sind, eine andere Sprache zu lernen.

Münire Inam: Es gibt keinen anderen Weg als Diversität. Wir brauchen nicht diskutieren ob das gut oder schlecht ist, es ist einfach Realität. Es ist nur die Frage, wie wir damit umgehen. Es geht auch darum, dass alle gleichberechtigt sind. Und selbstverständlich sind alle die hier geboren sind Österreicherinnen und Österreicher, vielleicht die einen mit einer anderen Religion, andere mit einem anderen Namen.

Rüdiger Teutsch: Kreativität zeigt sich, indem man Aufgaben gemeinsam löst, etwa beim Fußball gemeinsam den Ball ins Tor bringt oder ein Hilfsprojekt erfolgreich organisiert. Das sollte eine größere Rolle spielen als alles grammatikalisch richtig zu schreiben. Auch angesichts der globalen Herausforderungen braucht es mehr soziale Innovation. Die Zukunft ist vielsprachig und es wird darauf ankommen, verschiedene Talente, eine Breite von Begabungen, besser zu erkennen, die wir heute noch zu wenig nützen.

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Die Diskussion ist auf ORF-Campusradio in drei Teilen am 9., 10. und 11. April um jeweils 19:30-20:00 Uhr zu hören. Wer die Sendungen verpasst, kann sie danach unter Schülerradio nachhören.

Live-Hören:
In drei Teilen am 9., 10. Und 11. April
Jeweils ab 19.30 Uhr
Live-Stream unter http://oe1.orf.at/campus

Sowie danach on demand:
www.schuelerradio.at

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