127 Tote in Paris, was zählt da Physik?!

Foto von der Linzer Aufführung im Sommer beim Schäxpir-Festival
„Dreihunderfünfundsechzig+“: auf der Basis von Tagebüchern Jugendlicher wurde eine eineinhalbstündige Performance erarbeitet, die nun auch in Wien zu sehen ist.

Mit kleinen – verschiedenfärbigenBildkärtchen samt Datumsangaben aus 2016 sowie Fragen zu Erinnerungen an das Vorjahr wird das Publikum schon vor Beginn der nun auch in Wien gespielten Performance „Dreihunderfünfundsechzig+“ eingestimmt auf die folgenden eineinhalb Stunden. Vor rund einem halben Jahr erlebten diese Peformances beim Schäxpir-Festival in Linz ihre Premiere - der Großteil dieses Textes wurde damals verfasst, weil sich mit Ausnahme einiger Jugendlicher im Chor wenig geändert hat.

Das Leben wirft viele Fragen auf

In den rund 90 Minuten bringen junge Schauspieler_innen meist mitten im Publikum verteilt auf weißen würfelförmigen Hockern sitzend und damit noch näher gehend, manchmal am Rand stehend Tagebuchnotizen Jugendlicher über 2016 zu Gehör. Da wechseln einander Einträge wie „7 Uhr, der Wecker klingelt, es fühlt sich verdammt falsch an“ ab mit Einträgen über Attentate in Paris, Brüssel oder Aleppo. Erinnerungen an die letzte Party und den dort konsumierten Alkohol, mit Enttäuschung darüber, zu Weihnachten nur die Geschenke bekommen zu haben, die gewünscht waren und keines mehr und in der nächsten Sekunde die österreichischen Bundespräsidenten-Stichwahl-Wiederholung. „127 Tote in Paris – Physik ist heute unwichtig“ - mehrfach tauchen ähnliche Einträge auf. Und auch die reale und doch so absurd wirkende Verknüpfung damit, dass man selbst am Abend der Pariser Terror-Akte von denen nichts wissend, ausgelassen getanzt habe. Oder das wohl auch schon den meisten passierte unmittelbare Zusammentreffen von eigenen Einkäufen und davon hetzen auf der einen Seite und praktisch ignorierten bettelnden Kindern andererseits.

Gefühls-Achterbahnen

127 Tote in Paris, was zählt da Physik?!
Foto von der Linzer Aufführung im Sommer beim Schäxpir-Festival
Dann wieder Erlebnisse einer Schülerin, die samstags in einer Trafik arbeitet – laaaangweilig, nur ein 96-jähriger Stammgast, der sich immer nach neuen Zeitschriften erkundigt, um dann stets die gleichen zu kaufen bot Abwechslung. Oder das Philosophieren, ob die Schülerin, die nun knapp vor der Matura stehe sich schon wirklich reif fühle, andere, die die Schule generell zwar mögen, aber gerade an diesem Tag sie gestohlen bleiben könne. Brexit, Trump und andere Katastrophen wechseln einander ansatzlos ab mit Erzählungen von Spieleabenden und anderen Verwandtenbesuchen – wie eben auch in der Wirklichkeit.
Das + hinter dem Stücktitel Dreihundertfünfundsechzig deutet an, dass es sich bei 2016 ja um ein Schaltjahr handelte. Und ausgerechnet am 29. Februar: „Gruselig, heute war Physik wirklich spannend, wir haben Albert Einsteins Relativitätstheorie durchgenommen“, so der Eintrag einer/eines Tagebuch-Schreibenden – von wem welche Einträge stammen tut nichts zur Sache. Die einen notierten, dass David Bowie gestorben sei, andere halten dagegen, das wäre „irgendein Popstar“ gewesen, der ihm nichts sage, wahrscheinlich würde er auch dessen Lieder gar nicht mögen – Generationen-Gap zwischen Gleichaltrigen sozusagen.

Tagebücher

127 Tote in Paris, was zählt da Physik?!
Foto von der Linzer Aufführung im Sommer beim Schäxpir-Festival
Hayam und Sadek al Alwani, Katrin Edtmayr, Hannah Ernst, Lena Hödl, Anna Kassmannhuber, Yuria Knoll, Sophia Moustakakis, Apollo Pamperl, Clara Porak, Franziska Ruspeckhofer, Iris Schimpelsberger, Kim Wallgram - führten im vergangenen Jahr Tagebuch – es sollten sowohl persönliche als auch (welt-)politische Einträge sein war die Aufgabe, die Regisseurin Claudia Seigmann nach einer Idee von Corinne Eckenstein (künstlerische Leiterin des Dschungel-Wien) stellte. Aus all den Einträgen erstellte die Regisseurin gemeinsam mit Claudia Tondl eine Textfassung.
Die wird nun nach den ersten Aufführungen im Frühsommer beim Schäxpir-Festival in Linz nun im Dschungel Wien gespielt – von den Performer_innen Cristina Maria Ablinger, Wolfgang Fahrner, Daniela Graf und Sarah Scherer. Als Chor agieren Jugendliche, von denen einige auch an den Texten mitgearbeitet haben: Atsut Moja Calle, Lino Eckenstein/Florian Haneder, Anna Kassmannhuber, Lena Lammer, Lorenz Manzenreiter, Viktoria Rauchenberger, Christine Tielkes und Hanna Wirleitner.

Erdrückend

Heavy, fast erdrückend was 2016 alles los war und wie Jugendliche zwischen Druck von Schule und der (welt-)politischen Ereignisse unter Stress stehen. Wären auch noch Lehrlinge ins Schreibprojekt eingebunden gewesen, hätte sich noch Stress aus dem Arbeitsalltag dazugesellt. Dass der Fokus medialer Berichterstattung stark auf Europa und die „westliche“ Welt gerichtet ist, kommt vielleicht darin zum Ausdruck, dass es zwar einen Eintrag wie „Wäre ich aus Brüssel, wäre ich heut vielleicht tot“ gibt, aber keinen ähnlichen mit Bagdad, Peschawar oder auf kurdische Städten in der Türkei. Und die doch eher hoffnungsfrohen Aussichten für 2017 wirkten schon Mitte dieses Jahres in Linz überholt, begann dieses doch schon knapp nach Mitternacht in Istanbul mit einem Terroranschlag mit mehr als drei Dutzend Toten.

Dreihundertfünfundsechzig+
Theater Foxxfire! & Theaternyx*
Koproduktion: Wien Modern & Dschungel Wien
Kooperation mit Theaterfestival Schäxpir
Performance, 90 Minuten

Regie: Claudia Seigmann
Nach einer Idee von Corinne Eckenstein
Tagebuch-Autor_innen: Hayam und Sadek al Alwani, Katrin Edtmayr, Hannah Ernst, Lena Hödl, Anna Kassmannhuber, Yuria Knoll, Sophia Moustakakis, Apollo Pamperl, Clara Porak, Franziska Ruspeckhofer, Iris Schimpelsberger, Kim Wallgram
Textfassung: Claudia Seigmann, Claudia Tondl
Performer_innen: Cristina Maria Ablinger, Wolfgang Fahrner, Daniela Graf, Sarah Scherer
Chor: Atsut Moja Calle, Lino Eckenstein/Florian Haneder (abwechselnd), Anna Kassmannhuber, Lena Lammer, Lorenz Manzenreiter, Viktoria Rauchenberger, Christine Tielkes und Hanna Wirleitner

Musik: Bernhard Fleischmann
Bühne: Georg Lindorfer
Kostüm: Antje Eisterhuber
Regie-Assistenz: Carmen Jelovcan

Wann & wo?
Bis 24. November 2017 sowie 29. Jänner bis 1. Februar 2018
Dschungel Wien: 1070, MuseumsQuartier
Telefon: (01) 522 07 20-20

www.dschungelwien.at

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