Interview: "Geschwister prägen uns für das ganze Leben"

Interview: "Geschwister prägen uns für das ganze Leben"
Autorin Nicola Schmidt über Streit unter Kindern und warum Konflikte nach Jahren wieder aufbrechen

In ihrem Buch „Geschwister als Team“ erklärt Nicola Schmidt, warum Kinder oft streiten und wie die Rolle in der Familie sie für das Leben prägt.

KURIER: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Geschwister seit der Steinzeit natürliche Konkurrenten sind. Warum?

Nicola Schmidt: Studien im ländlichen Afrika zeigen, dass Kinder eine geringere Lebenschance haben, wenn sie vor dem Alter von drei Jahren Geschwister bekommen. Etwa, weil die Mutter sie nicht mehr stillt und sie schwer verdauliche Nahrung bekommen. Bei uns heute geht es weniger um Grundversorgung und mehr um Ressourcen wie Aufmerksamkeit und Zeit.

Was ist der beste Zeitabstand zwischen zwei Kindern?

Bei Kindern mit einem Abstand von weniger als drei Jahren gibt es deutlich mehr Konflikte. Aber wenn die Eltern diese Streitigkeiten gut moderieren, sind sie später sehr gute Spielpartner. Bei einem größeren Abstand gibt es weniger Konflikte – auch, weil das größere Kind gelernt hat, zu warten und seine Bedürfnisse zurückzustellen. Wenn das erste Kind über sechs oder zehn Jahre älter ist, habe ich fast ein zweites Einzelkind.

Viele Wissenschafter erforschen die Beziehung von Geschwistern, aber solche Studien werden oft kritisiert. Was kann man über den Charakter von ersten, zweiten und dritten Kindern sagen?

Das Erste gilt oft als das ernsthafte Kind, das Zweite als Problemkind und das Dritte ist das Quatschmacher-Kind. Das sind Merkmale, die sich oft in der Praxis bestätigen, aber mehr mit unserer Gesellschaft als mit der Geschwisterposition zu tun haben. In vielen Familien werden die Ressourcen knapper, sobald ein weiteres Kind kommt – Zeit und Geld. So kommt es, dass die anderen Kinder nicht mehr so viel Aufmerksamkeit bekommen oder zum Beispiel weniger gute Schulabschlüsse machen. Es zeigt sich auch, dass das zweite Kind oft schwieriger ist. Das liegt bei uns daran, dass eine Mutter mit drei Kindern sich eher dem jüngsten zuwendet, weil es am bedürftigsten ist. Der Effekt wird besonders stark, wenn keine anderen Bezugspersonen da sind, die sich dieses Kindes annehmen können, wie es in anderen Gesellschaften der Fall ist.

Manche Geschwister sind einander total nahe, andere streiten ständig miteinander, bis zum Erwachsenenalter. Was sollen Eltern tun?

Da gibt es viele Faktoren. Die größeren Kinder brauchen Zuwendung und dürfen nicht in die Rolle des vernünftigen Älteren gedrängt werden. Sätze wie „Du bist der Größere, stell’ dich nicht so an!“ sind tabu. Diese Kinder beginnen in ihrer Hilflosigkeit, ihre Geschwister zu hassen und schämen sich häufig dafür. Eltern sollten negative Gefühle zulassen. Wenn ein Kind sagt, „Das blöde Baby nervt“, antworten wir nicht mit „Das darfst du nicht sagen“, sondern wir hören dem Kind ruhig zu und erkennen an, dass so ein Baby manchmal eine Belastung sein kann. Wir trösten unser Kind, so entwickeln sich positive Gefühle. Probleme entstehen auch, wenn Eltern als Schiedsrichter oder Detektiv auftreten und streitende Kinder bestrafen. Sie werden nie herausfinden, wer angefangen hat und was passiert ist – und egal, wie wir entscheiden, fühlt sich ein Kind zurückgesetzt.

Wo ist die Grenze bei Konflikten, wo sich Eltern Hilfe holen müssen? Schließlich gibt es ja auch Mobbing in Familien.

Es ist ein Irrtum, dass Kinder alle Konflikte selbst lösen können. Wenn etwas immer wieder vorkommt, muss man sich fragen: Was ist das Bedürfnis hinter dem Verhalten? Aufmerksamkeit, Entscheidungsmacht, Abgrenzung, Ruhe? Manchmal müssen wir die Kinder einfach trennen. Spätestens wenn jemand körperlich oder verbal verletzt wird, müssen Eltern unbedingt einschreiten. Wenn sich Muster oft wiederholen, kann ein Blick von außen helfen, denn so ein ständiger Kampf kann bei den Kindern zu psychischen Schäden führen. Wir wissen, dass die Geschwisterbeziehung uns nachhaltig beeinflussen kann, etwa bei der Partner- oder Berufswahl.

Manche Muster ziehen sich bis ins Erwachsenenalter. Gehen die Konflikte vorbei?

Ich habe viel mit Erwachsenen gesprochen und viele beschäftigt das noch immer. „Meine Schwester hat mich absichtlich geärgert, damit ich ihr eins drüberziehe und die Strafe bekomme – meine Mutter hat das nie durchschaut.“ Spätestens, wenn die Eltern pflegebedürftig werden, brechen alte Geschwisterkonflikte wieder auf. Leider besonders im Erbfall. Bis dahin hat oft die Mutter den Streit unterbunden, aber dann heißt es „Du wolltest immer alles bestimmen“. Auch das Thema der ständigen Hilfsbedürftigkeit eines der Kinder kann ein Thema sein.

Wie können erwachsene Geschwister ihr Problem auflösen?

Eine Psychologin hat beschrieben, wie ihr ganzer Hass auf die Schwester verpufft ist, als ihr klar wurde, wie die Erstgeborene unter ihrer eigenen bevorzugten Position als Jüngste gelitten hat und ihr das sagen konnte. Leider hinterfragen viele Menschen ihre eigene Geschwisterkonstellation erst, wenn sie selbst Kinder haben.

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