Von der Kunst, das Sterben ins Leben zu holen
Abschiede sind Teil des Lebens. Ebenso wie das Leben sollte auch das Sterben gelernt werden. Warum fällt aber gerade uns aufgeklärten Menschen die Auseinandersetzung mit diesem zutiefst menschlichen Thema – mit dem Tod nahestehender Menschen und unserer eigenen Endlichkeit – so schwer?
Henning Scherf, ehemaliger Ministerpräsident von Bremen und Bestsellerautor, beschäftigt sich schon lange mit diesen existenziellen Fragen. Als Kind, im Zweiten Weltkrieg, hat er unzählige Tote und Sterbende gesehen, später Eltern, Verwandte, Schulkollegen verloren und Freunde während ihres Sterbens begleitet.
Auch die Wohngemeinschaft, die er mit seiner Frau vor fast 30 Jahren in Bremen gegründet hat, hat ihre Wurzeln unter anderem in diesem Thema. "Natürlich ist unsere Hausgemeinschaft auch deswegen entstanden, weil wir uns unter Freunden überlegt haben, wer uns wohl beisteht, wenn wir alt und gebrechlich sind und es ans Sterben geht", sagt der 78-Jährige.
Sich Gedanken darüber zu machen, wie man selbst sterben möchte, und dabei das Sterben aus seiner Tabuzone herauszuholen ist für ihn eine ganz wesentliche Frage. Sich zum Beispiel wie in der Hospizbewegung Sterbenden zuzuwenden, sieht er als große Lebenserfahrung. "Ich glaube, dass das Vertrautwerden mit Sterbenden eine besonders intensive Form des Miteinanderlebens ist."
Im KURIER-Gespräch will Henning Scherf Mut machen für eine neue Kultur des Sterbens, einen neuen gesellschaftlichen Umgang damit. Er erklärt, wie wir uns wieder mit Sterben und Tod vertraut machen können und wie wir diese Themen in unser Leben integrieren können. "Wenn man ein bisschen über seinen Tellerrand hinausschaut, kann man ganz erstaunliche Dinge erleben."
KURIER: Sterben müssen wir alle, die meisten erschreckt der Gedanke daran. Wie kann ein gutes Sterben gelingen? Ist das überhaupt möglich?
Henning Scherf: Jahrtausende war die Sterbekultur ein Privileg der Kirche und Religion. Wer innerhalb einer Kirche war, wusste ziemlich genau, was da auf ihn zukommt und hatte ein gewisses Privileg. Es gab eine Liturgie und eine Sterbebegleitungshilfe, auf die automatisch zurückgegriffen wurde. Viele hatten dann auch die Hoffnung, dass es ihnen nach dem Tod richtig gut geht. Und dann passierte die Aufklärung. Seither klappen diese religiösen Zusagen nicht mehr so wie früher, die Leute gehen damit völlig anders um. Die ganz große Mehrheit denkt, es ist mit dem Tod zu Ende. Das Reden über die Zeit nach dem Tod sei eigentlich nur Ablenkung.
Heute fehlen traditionelle Auffangnetze zunehmend. Brauchen wir daher neue Strategien?
Ja, die brauchen wir. Die Frage ist ja: Wie geht man in einer Zeit mit dem Tod um, in der diese religiöse Anlage, von den Mühen in eine paradiesische Zukunft zu wechseln, bei den meisten nicht mehr wirklich trägt. Da gibt es sehr viele unterschiedliche Verhaltensweisen.
Welche zum Beispiel?
Ganz viele setzen auf die Medizin – und überlassen es ihr mit ihren tollen Techniken und Medikamenten. Der in Bremen verstorbene Kulturphilosoph Ivan Illich nannte es die "Medikalisierung der Gesellschaft". Das heißt, ein Teil löst die Existenzfrage, was am Ende seines Lebens passiert, damit, dass es schon die richtigen Tabletten und Therapien geben wird.
Andere verdrängen es schlicht. Sie wollen nichts damit zu tun haben. Sie hoffen, dass es schnell vorbei ist und wollen nicht darüber reden. Im Sinne von: Das hat nichts mit unserem Leben zu tun und wir wollen uns die gute Laune nicht verderben.
Das sind klassische Reaktionen. Dann kommt aber noch das tägliche vermittelte Sterben über die Medien – in Krisengebieten, auf Flüchtlingsrouten, auch in der Nachbarschaft. Überall sind wir mit den Formen von Sterben konfrontiert und schauen entsetzt zu.
Und wie können – oder sollen – wir mit dem allgegenwärtigen Tod umgehen?
Das Thema gehört wieder ins Leben zurückgeholt. Wir müssen uns alle fragen, wie man damit vertraut werden kann. Schließlich haben wir alle nur begrenzt zu leben und wir haben alle damit zu tun. Dazu gehört etwa, die Sterbenden nicht alleine zu lassen. Das hat viel mit Hospizarbeit zu tun. Aber auch denjenigen, die weiterleben und Hospizarbeit aktiv betreiben, muss man Mut machen und sagen: Ihr tut etwas für euch selber. Was ihr da erfahrt, ist ein Aufwerten eurer eigenen Biografie. Ihr werdet ein Stück auf euch selbst verwiesen. Vielleicht kann man so die eigene Zeit bewusster wahrnehmen.
Jemanden Nahestehenden sterben sehen – genau das halten aber viele Menschen nicht aus.
Ja, viele laufen da weg und lassen die Sterbenden alleine. Ich beobachte eine Lieblosigkeit im Umgang mit sterbenden Leuten. Es ist wirklich nicht selbstverständlich, sich auf Schwerkranke und Sterbende zu konzentrieren und sich um sie zu bemühen. Da verlässt man sich auf Profis. Die Folge ist, dass unser Leben flacher geworden ist. Es wird ein oberflächliches Leben, bei dem man versucht, sich mit Jux über den Tag zu bringen. Dieses sich mit oberflächlicher Animation im Leben zu halten – das ist so dürftig, man kann doch nicht vom Juxen leben. Am Schluss liegt man dann da und fragt sich, was war eigentlich, was ist mit mir geschehen? Da ist man dann in einer noch größeren Einsamkeit angekommen.
Das Sterben und das Teilhaben daran wertet also in gewissem Sinne auch das Leben auf?
Wer das Sterben nicht verdrängt, kann sein Leben tatsächlich reicher machen. Ich habe so viele schöne, dichte Erfahrungen mit Sterbenden erlebt, die mein Leben bereichert haben. Für mich ist die Sterbebegleitung ein Geschenk. Das wissen viele gar nicht. Die haben es einfach nicht ausprobiert. Man muss sich mit dem Thema vertraut machen.
Wie sind Sie selbst zu dieser Auseinandersetzung gekommen?
Bei mir hat das Miterleben von Sterben früh begonnen, ich habe den ganzen Zweiten Weltkrieg als Kind miterlebt. Wir haben das gesehen, das ist mitten in der Stadt passiert. Bremen wurde zu zwei Dritteln zerbombt. Ich habe jede Menge Sterbende – übrigens auch Gleichaltrige – in den Kriegsjahren erlebt. Mein Eltern waren gegen die Nazis, mein Vater saß im Gefängnis, die Mutter hatte Typhus und war über ein Jahr lang in Quarantäne. Wir wurden ausgebombt, haben mit unserer Großmutter überlebt. Wir Kinder haben uns immer gefragt, warum sind wir da nicht dabei. Unser Pastor hat gesagt, der liebe Gott hält die Hand da drüber und wir haben uns gefragt, warum bei uns und nicht bei den anderen. Die haben ja keine Schuld. Das hat mich schon als Kind beschäftigt.
Haben Sie da im Glauben Trost gefunden?
Laut Kirchenmeinung ist es ja mit dem Tod nicht zu Ende. Da habe ich lange gedacht: Wie geht das? Ich weiß noch, mit 13 Jahren dachte ich, das kann ja gar nicht sein, dass die wieder aufstehen, wo sollen diese Millionen Menschen alle hin? Ich habe auch winzige Knochen und Skelette gesehen. Einmal habe ich einen Totenkopf in der Hand gehalten. Ich habe mir gedacht, der kann doch nicht wieder auferstehen, das ist doch alles kaputt. Da habe ich mich dann ganz langsam schon als Jugendlicher aus dieser Vertröstung, dass es nach dem Tod weitergeht, verabschiedet. Damit verbunden ist meine Entscheidung, dass ich nicht Theologie, sondern Jura studiert habe und mich damit auch auf das Diesseitige konzentriert habe.
Was hat Sie sonst noch geprägt?
Das Sterben hat mich eigentlich nie ganz losgelassen. Mein Vater wollte, dass wir vor dem Abitur ein Praktikum in einer großen sozialen Einrichtung machen. Da bin ich dann als 17-Jähriger richtig dabeigesessen, als Menschen starben. Ein Mann hat mir im Delirium alles Mögliche aus seinem Leben erzählt. Das ist mir heute noch gegenwärtig. Immer wieder bin ich in meinem Leben ans Sterben erinnert worden: als die Großmutter, die Eltern starben. Irgendwann kamen Klassenkameraden auch dazu. Und immer hat es mich daran erinnert: Pass auf, das kann dir jeden Tag passieren. Jetzt, wo ich alt geworden bin, kann ich darüber reden.
Der Tod rückt mit dem Alter wohl näher, man wird sich der eigenen Endlichkeit immer bewusster.
Mein Interesse für die Altersphase, auf die Gebrechlichkeit, auf das Mühen im Alter hat sich erst nach und nach in diese Richtung verlagert. Ich hab versucht, herauszufinden: Was bleibt denn, wenn man nicht mehr laufen kann, wenn man alles vergisst? Ich bin dadurch immer näher ans Sterben gekommen.
Mit meiner Frau lebe ich seit fast 30 Jahren in einer Wohngemeinschaft mit mehreren Generationen. Das sind nun die Begleiter meiner Altersjahre. Diese Zeit ist für mich aber kein Albtraum – im Gegenteil, es ist sehr intensiv. Ich freue mich auf jeden Tag, den ich noch vor mir habe und an dem ich etwas Neues erlebe und Begegnungen mit Menschen habe. Ich möchte möglichst positiv besetzen, welche reizvollen und attraktiven Alterserfahrungen es gibt. Auch wenn manches im Körper nicht mehr so mitmacht. Es geht erstaunlich viel, wenn man Leute um sich rum hat.
In diesem Erfahrungsbereich bin ich auch älter geworden und auch hier im Haus haben wir zwei Sterbefälle begleitet, die sind in unserer Mitte gestorben. In dem Zimmer, in dem ich gerade sitze und mit Ihnen telefoniere, ist ein Mitbewohner nach fünfjähriger Leidenszeit gestorben. Wir waren da alle mit dabei.
Macht einen das Alter freier im Umgang mit dem Tod?
Ja. Ich finde, das müssen wir nicht verdrängen. Das müssen wir benennen, das müssen wir unserer Umwelt sagen. Die müssen wissen, was unsere Wünsche sind, damit sie sich darauf einstellen können. Wie man sein Sterben gestaltet, ist auch wichtig für den persönlichen Prozess des Abschließens. Das Verschweigen und Verdrängen ist nicht gut. Das erhöht die Einsamkeit und die Verzweiflung. Besser ist: Lernen, darüber zu reden. Das ist eine Lebenshilfe für alle, die das begleiten. Ich kenne alte Leute, die sind dann ganz gelassen.
Eine Freundin wird demnächst 105 Jahre alt. Ich bin immer ganz glücklich, wenn ich mit ihr zusammen bin, weil sie so entspannt darüber redet. So, als ob sie mit dem Tod vertraut ist, als ob sie sagt: Den kenn ich. Da kommt er manchmal rein und dann dreht er sich wieder um, weil ich noch immer nicht so weit bin. Ich freue mich darüber, dass ihr das gelingt, das Thema so gelassen und so wenig angstbesetzt zu einer Lebensrealität zu machen. Ich finde, das ist eine Kostbarkeit der eigenen Existenz. Man muss den Menschen den Zugang verschaffen, damit sie sich damit einrichten und es akzeptieren. Dann können sie auch besser damit umgehen.
Haben Sie das Gefühl, dass sich etwas in diese Richtung verändert?
Im Mittelalter sprach man immer von der "ars moriendi", der Kunst, das Sterben zu begleiten. Das ist aus der Mode gekommen. Ich beobachte aber, dass es wirklich interessierte Menschen gibt, die diese Kultur auf ihre Weise unter aufgeklärten Bedingungen wieder lebendig machen. Ich spüre durchaus eine neue Sensibilität, eine neue Empfindsamkeit, die mir gefällt.
Was wird dabei anders gemacht? Sie richtet sich nicht nur in die traditionellen Rituale und Liturgien aus, sondern will etwas entwickeln, das die Leute trägt und zusammenhält. Auch gibt es immer mehr alternative Bestattungsformen. Das erlebe ich als liebenswürdige, menschenfreundliche Erfahrungen. Da werden etwa Orte gesucht, an denen man gemeinsam isst und singt – der Sarg steht in der Mitte und wird von den Kindern der Familie bemalt. Es gibt so viel überraschend Neues, da spüre ich einen anderen Umgang. Das ist kein "weg damit"-Gedanke, sondern manche überlegen wirklich, das Thema in den Alltag zu integrieren und es ihren Kindern beizubringen. Ich hoffe darauf, dass das nicht nur ein Strohfeuer ist. Sondern dass sich die Zivilgesellschaft intensiv mit diesem letzten Lebensabschnitt beschäftigt. Vielleicht entwickelt sich daraus wieder eine Kultur eines humanen Umgangs miteinander.
BUCHTIPP
Annelie Keil, Henning Scherf: "Das letzte Tabu. Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen." Verlag Herder, 20,60 €.
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