Wer kann sich heutzutage noch benehmen?

Küss’ die Hand, schöne Frau, Ihre Augen sind so blau ...“ – Küss’ die was? Der Gassenhauer der „Ersten Allgemeinen Verunsicherung“ der 1980er-Jahre wär’ heute im besten Fall ein Flop, weil wer kennt schon einen Handkuss? Und im wahrscheinlicheren Fall ein Affront: ein Mann, der eine Frau umgarnt, auch noch mit körperlichem Kontakt, gibt es etwas politisch Unkorrekteres?
Dabei ist bzw. war der Handkuss Ausdruck einer „der Frau gegenüber besonderen Wertschätzung, Ergebenheit, Demut, Bewunderung, Huldigung oder Verehrung“, wie seine Definition lautet (und geht zurück auf das Küssen des Siegelringes von Adeligen und kirchlichen Würdenträgern). Heute ist er Teil einer Etikette, die wie andere Akte der Höflichkeit (Türe aufhalten, in den Mantel helfen) allenfalls noch in der Ballsaison gepflogen werden, aber im Alltag verschwunden sind – so wie die Höflichkeit an sich und die Grundfrage, was „man“ vor allem in der Öffentlichkeit tut und was nicht.

Hoppla, jetzt komm ich
Dabei ist Höflichkeit nicht nur Respekt und Wertschätzung, sondern auch Rücksichtnahme (und damit Wertschätzung des anderen). Gefühlt hat diese Platz gemacht, oder machen müssen, einer sich ausbreitenden „Hoppla-jetzt-komm-ich“-Mentalität: Lautes Video-Telefonieren in der U-Bahn, Döner-Schmatzen und Odeur-Verbreiten im öffentlichen Raum, ungeniertes Manspreading auf Sitzflächen, Rempeln und Vordrängen in Warteschlangen, „Zweite Kasse!“ und ich stürm’ zuerst, Husten ohne Hand (oder Armbeuge) vor dem Mund – alles Dinge, die einst in einer guten Kinderstube als No-Gos gelehrt worden wären.
Höfliches Furzen
„Einen Furz verdecke man mit einem Huster“, war ein Sprichwort, das Erasmus von Rotterdam 1529 zur Umsetzung empfahl. Er verfasste eines der ersten Benimmbücher aus dem europäischen Kulturkreis
Höfliches Rülpsen
Für Lucas Gracian Dantisco, einen spanischen Schriftsteller, bestand die Kunst des höflichen Rülpsens darin, die Hand wie zufällig über das Gesicht gleiten zu lassen und dabei den Mund zu bedecken, „damit man nichts merkt“
Audienz mit Klo
Der französische Sonnenkönig Ludwig XIV. fand nichts dabei, seinen Stuhlgang während Audienzen zu erledigen. Es war eine Ehre, ihm dabei zuzusehen. Entsorgt wurde im Kamin oder – beim einfachen Volk – auf der Gasse
Literaturtipps
All das und vieles mehr ist in „Gutes von Gestern“ von Elizabeth P. Archibald zu finden. Das Buch enthält Benimmregeln und Tipps aus 1.000 Jahren. In ihrem Blog
askthepast.net gibt es allerlei Handlungsanweisungen aus der Geschichte, etwa, wie man sich in der Schule benehmen sollte. „Bitte nach Ihnen, Madame“ von Ari Turunen ist
eine kurze Geschichte des guten Benehmens
Aber wo wird heute Höflichkeit und Anstand vermittelt, und wer vermittelt sie? Das Zuhause? Die Schule? Das Tiktok-Video? Und welche Höflichkeit, welche Etikette gilt, zumal in einer zunehmenden Vermischung der Kulturen auch hierzulande? Und ist uns vieles im Umgang miteinander, vom Handschlag angefangen, in Corona-Zeiten abhandengekommen?
Immer diese Jugend
Dass die Pandemie einen Einschnitt bedeutet hat, ist für Heinz Daxecker von der Knigge Gesellschaft Österreich nicht von der Hand zu weisen. „Es ist vor allem die Höflichkeit sich selbst gegenüber verloren gegangen – durch das Isoliertsein“, sagt er.
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Die Kleidung sei etwa im Homeoffice vernachlässigt worden und bei der Pizza vor dem Fernseher die Esskultur. Das Besteck blieb in der Lade. Aber er sieht nicht, dass das gute Benehmen an sich verschwindet. „Man nimmt schlechtes Benehmen wieder verstärkt wahr, nach einer Zeit, in der man auf sich selbst konzentriert wahr.“ Es ist wie überall: Das Negative fällt eher auf als das Positive.
Das Handy
Lassen Sie es in der Tasche, wenn Sie mit jemandem am Tisch sitzen. Wenn Sie einen Anruf erwarten, stellen Sie das Handy auf lautlos (Vibrato) und legen Sie es mit dem Display nach unten auf den Tisch.
Der Husten
Seit Corona gilt: Husten und niesen in die Armbeuge, damit Viren nicht wieder über die Handflächen verbreitet werden.
Die Öffis
Es gibt vieles, das man in Öffis nicht tun sollte: essen, trinken, mit Hunden ohne Beißkorb einsteigen, laut telefonieren... Was man tun sollte: Rücksicht nehmen, helfen, wenn gewünscht, Sitzplatz anbieten, wenn nötig. Zivilcourage zeigen, wenn man Zeuge einer Belästigung ist (z. B. Polizei holen).
Die Begrüßung
Prinzipiell ist der Handschlag zurück. Feingefühl ist aber angebracht. Wenn das Gegenüber keinen Handschlag will, dann sollte man das respektieren. Man selbst muss auch nicht
die Hand reichen
Und was ist mit den jungen Menschen? Sie bekommen über Generationen hinweg zu hören, dass sie sich nicht mehr benehmen können – unter dem Motto „Das hätt’s früher nicht gegeben“. „Auch in den 50er- oder 70er-Jahren hat man gesagt, die Jugend ist ruppiger geworden.“ Die Erwachsenen müssen laut Daxecker Höflichkeit vorleben, zu Hause einen höflichen Umgangston pflegen, wollen sie, dass der Nachwuchs auch weiß, wie man sich benimmt.

Auf die Benimmfragen des modernen Alltags haben auch Eltern nicht immer Antworten parat. In diesen Fällen hilft Clemens Hoyos, Tiktok-Influencer mit 400.000 Followern. In seinen Kurzvideos erörtert der deutsche Knigge-Experte Etikette-Themen, die die Generation Z (um die Jahrtausendwende Geborene) bewegen – von (möglichst) elegantem Döner-Essen bis zum adäquaten Verhalten auf Tinder. Dass „die Jugend“ unhöflicher werde, will auch er so nicht stehen lassen. „Diese Leier ist so alt wie die Menschheit selbst“, sagt Hoyos. „Allerdings wird die Art der Unflätigkeit aufgemischt – etwa durch das Smartphone.“ Auch er beobachtet einen Wandel durch die Pandemie-Zeit. „Wir sind dünnhäutig geworden, weil es eine Ausnahmesituation mit polarisierenden Standpunkten war. Wie wir diskutieren, essen, uns kleiden, all das hat sich verändert. Bequemlichkeit ist für viele Menschen zum obersten Gebot geworden.“
Pflichtfach Benehmen
Das Gefühl, dass Etikette nichts mehr zählt, war aber schon vor der Pandemie vorhanden. Bei einer Umfrage von YouGov aus dem Jahr 2015 gaben 75 Prozent der Deutschen – auch die Jungen – an, dass die Menschen früher höflicher waren. Jeder Zweite wünschte sich „Benehmen“ als Pflichtfach in der Schule.
Dazu kommt, dass die Gesellschaft immer neue Regeln für immer neue Gegebenheiten braucht. Aber eigentlich ist es doch ganz einfach: Der Hausverstand hilft weiter. „Man muss in der Situation entscheiden, ob man Regeln anwendet oder nicht.“ Es darf auch mal eine junge Frau einem älteren Mann in den Mantel helfen. Der Handkuss kann als Zeichen der Ehrerbietung gesehen werden. „Ich bin da sehr verstaubt“, sagt Daxecker. „Ich bin ein Freund des Handkusses.“ Er sei eine Geste, die auch mit Wien verbunden wird.
Also dann: Küss’ die Hand.
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