Film "Wunder": Leben mit Treacher-Collins-Syndrom

Ramil Binuya
Wie Auggie im Kinohit "Wunder" wurde Ramil (9) mit dem seltenen Gendefekt geboren.

Wenn Auggie schluchzend im Bett liegt, weil ihn andere Kinder wieder einmal "Missgeburt" genannt haben, bleibt im Kinosaal fast kein Auge trocken. Die Geschichte um den zehnjährigen August Pullman, dessen Gesicht aufgrund einer seltenen Genmutation schwer deformiert ist und der sich nichts sehnlicher wünscht als Freunde, avancierte in den USA zum Überraschungserfolg. Auch hier berührte "Wunder" Zigtausende Kinobesucher.

Nicole Binuya, 30, kennt Szenen wie diese. Vor neun Jahren kam ihr Sohn Ramil ebenfalls mit dem seltenen Treacher-Collins-Syndrom (siehe unten) zur Welt. Ein Schock für die jungen Eltern, doch viel Zeit für Selbstmitleid blieb nicht – Ramils erstes Lebensjahr war geprägt von Krankenhausaufenthalten, Warten, Zittern, Hoffen. "In so einer Situation muss man von null auf hundert erwachsen werden. Alles dreht sich um die Fragen, wie das Kind atmen und essen kann", erzählt die Deutsche.

Mathe-Genie

Durch die Krankheit ist Ramils Hörsinn geschädigt, er hat keine Wangenknochen, seine Augen stehen schief – wie bei Auggie, dessen Darsteller Jacob Tremblay eine Gesichtsprothese und Make-up trägt. Fünfmal wurde Ramil im Gesicht und an den Ohren operiert, doch er entwickelte sich gut: "Schon kurz nach seiner Geburt sagten die Ärzte, dass er ein besonders empathisches Kind sei. Bis heute ist er sehr einfühlsam und hilfsbereit", erzählt die vierfache Mama. "Er macht sich immer Sorgen um seine Geschwister oder wenn jemand verletzt ist. Ich vermute, es hängt damit zusammen, dass er selber weiß, was Schmerzen sind."

Eine weitere Parallele zu Leinwandheld Auggie ist Ramils enormer Wissensdrang in Naturwissenschaften, vor allem Mathematik. Der Neunjährige besucht eine Spezialschule für hörgeschädigte Kinder ganz in der Nähe seines Wohnorts. Ein Glücksfall, weiß seine Mutter. "Dort wurde er, was das Hören betrifft, gut aufgefangen. Dass er anders aussah, war natürlich immer noch so, aber die Kinder dort können gut damit umgehen."

Nicht selbstverständlich, wie Mutter und Sohn eines Nachmittags erfahren mussten. Als Ramil zum Kinderturnen wollte, beschimpften ihn die anderen Kinder als "Alien" . Mit "dicken Tränen" verließen die Binuyas die Sporthalle. Wie stillt man den Schmerz des Kindes, wenn man selber tief verletzt ist? "Ich habe mich in Julia Roberts (sie spielt Auggies Mutter, Anm.) eins zu eins wiedererkannt", sagt Binuya. "In sochen Situationen sage ich Ramil, dass wir ihn lieben und alles machen werden, was er sich in Hinblick auf seine Krankheit wünscht. Aber wir sagen ihm auch, dass er für uns perfekt ist, wie er ist."

Sichtbar machen

Für Ramils Freunde aus der Nachbarschaft spielt sein besonderes Aussehen ebenfalls keine Rolle, im Gegenteil: Seit dem Kinofilm finden sie ihn noch cooler. Überhaupt habe "Wunder" viel bewirkt, berichtet Ramils Mutter. "Er hatte richtig viel Spaß im Kino, weil er Auggie so cool fand. Danach hatte ich einen aufgeweckten Jungen zu Hause, der sogar von sich aus auf ein anderes Kind zugegangen ist. Auggie hat Ramil viel Mut gemacht."

Film "Wunder": Leben mit Treacher-Collins-Syndrom
Nicole Binuya mit Familie

Und Mut, das ist Nicole Binuya bewusst, wird ihr Sohn auch weiterhin brauchen. "Gestarrt wird immer. Wir sagen Ramil dann, dass die Leute das nicht böse meinen, sondern Angst vor etwas haben, das sie nicht kennen." Auggie versteckt sein Gesicht deshalb am liebsten unter einem Astronautenhelm. Es sei wichtig, Kinder wie Ramil oder Auggie sichtbar zu machen: "Wir versuchen, mit ihm auf andere Kinder zuzugehen und erklären ihnen, dass Ramil zwar anders aussieht, sie aber ganz normal mit ihm spielen können. Ramil sagt immer: ‚Mama, die Leute sollen lieber fragen, statt mich anzustarren.‘"

Ramil habe sie gelehrt, offener zu sein, sagt die 30-Jährige. "Ich wünsche mir, dass Erwachsene überlegen, bevor sie urteilen. Dann machen es ihre Kinder später genauso." Auch Auggie, so viel sei verraten, bleibt kein Außenseiter. Und braucht am Ende nicht einmal mehr seinen Astronautenhelm.

Das Treacher-Collins-Syndrom oder auch Franceschetti-Syndrom (Dysostosis mandibulofacialis) gehört zu den seltenen Erkrankungen und betrifft eines von 50.000 Neugeborenen. Der Gendefekt führt zu Fehlbildungen des Jochbeins, Unterkiefers und/oder der Ohrmuschel. Weder Intelligenz noch Lebenserwartung sind beeinträchtigt.

Die Mitglieder der (deutschen) Selbsthilfegruppe Franceschetti – darunter Familie Binuya – treffen einander einmal im Jahr zum Erfahrungsaustausch. Informationen unter www.franceschetti.de

Auf ihrer Website schildert Nicole Binuya Ramils Geschichte im Detail und stellt ihre Familie vor. www.kleinekaempfer.de

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