Wie ich lernte, Grenzen zu ziehen

Wie ich lernte, Grenzen zu ziehen
Kann ein "Nein" lebensrettend sein? Vermutlich. Sehr persönliche Gedanken zu einem wichtigen Wort.

Und da saß sie seit Stunden, um Kuverts mit Kundenbriefen zu befüllen. An diesem Freitagabend und ihrem Geburtstag. "20 bin ich also", dachte sie und schaute bewusst nicht auf die Uhr. Ihre Tante hatte bereits mehrmals im Büro nach ihr gefragt: "Wann kommst du endlich heim, weißt du, wie schlecht es deiner Mutter geht?" Denn genau betrachtet ging es an diesem Tag gar nicht um den Geburtstag, sondern um die Frage: Wie lange wird Mama noch mit mir sprechen können? Bei der 56-jährigen waren nach der Diagnose Lungenkrebs und einer Operation Hirnmetastasen festgestellt worden. Mit zunehmenden Sprach- und Gehstörungen. So lange wie möglich die Mama daheim behalten – das war erklärtes Ziel.

Aber diesmal. Diesmal konnte die junge Frau nicht einfach so weg aus dem Büro – wo sie doch laut Ja gesagt hatte. Zu einer Aufgabe, die ihr vom Chef angeordnet wurde. "Bitte um Ihren Totaleinsatz." Alles müsse heute raus, unbedingt. Kein Pardon. Geburtstag? Egal.

Ein Moment, den man nie mehr vergisst

Stunden später kam die junge Frau nach Hause. Die Arbeit war erledigt, die Mutter ins Hirnkoma gefallen. Zu spät. Ihrer Tochter zum 20. Geburtstag gratulieren konnte sie nicht mehr. Die hat ja ihre "Pflicht" getan, statt Nein zu sagen. Weil sie es nicht geschafft hat, die einzig richtigen Worte für diesen Moment auszusprechen: "Nein. Ich gehe jetzt nach Hause, meine Mutter stirbt demnächst."

Die junge Frau, die das erlebt hat, bin ich – Autorin dieser Zeilen. Nein zu sagen, ist heute noch eine sehr spezielle Herausforderung für mich. Ja, es geht. Immer wieder, immer öfter. Und besser. Ohne Wenn und Aber. Ohne das Gefühl zu haben, mich dadurch zu gefährden. Dass ich, indem ich meine Grenzen ziehe, verstoßen, allein, verarmt und ungeliebt sein würde. Doch ich musste es erst lernen, dieses "Sage Nein, sage stopp". Um, damit verbunden, das Gespür dafür zu entwickeln, wer ich bin, was mich treibt. Das war ein langer, jahrzehntelanger Weg. Interessant ist, was ich von Ingrid Drossos-Stuller, Internistin und Burn-out-Expertin, dazu erfahren habe: "Nein zu anderen zu sagen, und damit indirekt ein Ja zu mir selbst zu formulieren, fällt oft schwer. Selbstzweifel ("Darf ich zuerst an mich denken?") und Sorge, durch ein Nein in einer Beziehung zurückgewiesen oder gekündigt zu werden, sind häufige Gründe dafür."

Ja, das war, was mich damals trieb.

Burn-out - das "erfundene" Leiden?

35 Jahre später sitze ich dieser Freundin gegenüber – 42, blass, fahrig. Müde sei sie, aber doch getrieben. Der Job, die Vorgesetzte, ihre komplizierte Ehe – wo beginnen, wo aufhören? Vor allem: Wozu Nein sagen? Der Arzt hat ihr Schlaftabletten verschrieben, leichte, klar. Abends trinkt sie manchmal das Achtel zu viel. Es sind Bekannte, die behutsam das Wort Burn-out ins Spiel bringen. Sie hingegen lehnt diesen Begriff ab, so wie viele andere Menschen mit Coolness-Faktor, die meinten, das sei doch diese Krankheit, die es gar nicht gäbe. Also denkt sie lieber darüber nach, ihre Skills zu perfektionieren, um noch mehr zu schaffen. Was ich als ihre Freundin dazu zu sagen habe, sage ich. Ich habe aber keine Ahnung, ob meine Worte ankommen.

Richtig, Burn-out steht nicht im Diagnosesystem der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme (ICD-10) – deshalb zu glauben, es sei eine Fata Morgana, ist falsch. Das Ausbrennen existiert – es ist vielschichtig und vielgesichtig. Und es ist aktueller denn je – in einer Zeit der Maximierung, des Multitaskings und der Superlative bei gleichzeitiger Verunsicherung durch äußere Bedrohungen.

Es trifft meist jene, die überzeugt sind, der Welt einen Hax’n ausreißen zu können – und das dann mit jedem Atemzug und Herzschlag beweisen müssen. Sich selbst, in erster Linie. Es sind Menschen, die zu jeder Herausforderung "Ja!" und "Hier!" sagen, vielleicht auch getrieben von der Sehnsucht, irgendwann einmal auf einem Podest zu stehen – bejubelt, anerkannt. Aber das Podest ist die Illusion, auf dem die Anstrengung gebaut ist – irgendwann löst sich das alles auf, wie so eine komische Fata Morgana in einer anstrengenden Wüste. Ein kluger Satz, der mir dazu einfällt: "Je mehr Sie Ihre Identität im Außen anstatt im Innen suchen, umso größer ist die Gefahr Ihres Zusammenbruchs, wenn das Äußere wegfällt." Aber sagen Sie das mal einem Möchtegern-Bestleister wie mir.

Selbst gemachter Druck

Die sind übrigens in bester Gesellschaft. Jeder vierte Österreicher ist gestresst, zeigte erst vergangene Woche eine Lifestyle-Studie der GfK Austria Sozial- und Organisationsforschung mit 4000 Befragten. Unter den Top-3-Stressfaktoren liegt auf Platz 2 ein richtig fetter Übeltäter – nämlich "Druck, den man sich selbst macht." Das klassische "Performer"-Schicksal, da geht noch was, das muss jetzt. So war ich auch. – Falsch.

So bin ich im Grunde immer noch. Der feine Unterschied: Ich weiß das und bin mir dessen bewusst, weil ich gelernt habe – rechtzeitig und ohne die bittere Erfahrung eines Total-Ausbrennens – mit mir selbst in Beziehung zu stehen und mich vom Mythos des "Allmüssbaren" zu befreien. Irgendwann habe ich verstanden, dass ich mir mehr zuhören sollte. Und dass ein Nein in Wirklichkeit ein Ja zu mir selbst ist.

Nein - ein Überlebensprinzip

Ich will nicht behaupten, dass mich das zu einem besseren Menschen macht. Darum geht es ja gar nicht – vielmehr zählt, dass ich mich zu einem besseren Menschen mache. Indem ich mich achte und beachte, indem ich für mich da bin. Und so habe ich irgendwann aufgehört, in meinem Leben zu fehlen. Manche nennen das Authentizität, ich finde einfach, dass ich jetzt – einmal mehr, einmal weniger – weiß, was ich will. Was gut tut, und was nicht.

Deshalb fällt es mir auch zunehmend leichter, meinem Überlebensprinzip namens Nein zu folgen. Ich sage es nicht nur zu Dingen, die von mir verlangt werden (oder selbst von mir verlange), sondern auch zu Menschen. Um das zu schaffen – den langen Weg von der Frau eingangs zur Frau heute zu gehen – hat es nicht nur Jahre an Seelenbastel-Arbeit gebraucht. Sondern auch viele Dialoge mit klugen Menschen.

Bücher halfen – etwa jenes der Medizinerin Mirriam Prieß, deren "Burn-out kommt nicht nur von Stress" (2013 erschienen) allen, die ähnlich "funktionieren" wie ich, ans Herz gelegt werden sollte. Für Prieß ist das Ausbrennen "Ausdruck eines Menschen, der rastlos durch sein Leben irrt, weil er die Ruhe nicht in sich selbst findet". Viele Betroffene gehen auch deshalb über ihre Grenze und überfordern sich, weil sie ihre Identität verleugnen und sich verloren haben. Das "wahre Selbst" schlummert gut vergraben unter einem Berg fremdinszenierter Selbstbilder und fremddefinierter Ziele.

Prieß ist überzeugt, dass Burn-out nicht aus Überlastung entsteht – "Menschen brennen aus, weil sie die Beziehung zu sich selbst und ihrer Umwelt verloren haben". Es fehlt an Fähigkeit, mit sich im Dialog zu sein und zu bleiben. Gefühle werden ignoriert. Wünsche, Notwendigkeiten, Sehnsüchte. Die Ursprünge dafür liegen oftmals in der Biografie eines Menschen. "Es ist bitter, sich einzugestehen, wie ein erwachsener Mann noch immer hinter der Anerkennung seines Vaters hinterher rennt und sich darüber selbst aus den Augen verliert", schilderte ein Anwalt in einer Beratungsstunde bei Prieß. "Einmal wollte ich die Anerkennung in seinen Augen sehen. Einmal das Gefühl haben, es auch geschafft zu haben. Was ich mir dadurch angetan habe – das kann man eigentlich keinem erzählen." Das zu erkennen und umzudeuten, schmerzt – ich weiß das. Aber es ist die einzige Chance, sein Leben neu zu definieren. Etwas reguliert sich. Mut zum Nein impliziert die Fähigkeit, unbequem zu sein. Sich entschlossen einzusetzen – für das, was einen Menschen ausmacht.

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