Bildungsreform ist "Betrug und Irreführung"

Bildungsreform ist "Betrug und Irreführung"
Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann über den Etikettenschwindel "Neue Mittelschule" und fleißige Mütter.

Eine Jubelmeldung nach der anderen versendet das Unterrichtsministerium: Neue Mittelschule, Ausbau der Ganztagsschule, Zentralmatura. Doch was bringen diese Reformen wirklich? Darüber sprach der KURIER mit Stefan Hopmann.

KURIER: Wo ist die größte Baustelle im Bildungssystem?

Stefan Hopmann: Die Frage müsste heißen: Wo ist keine?

Das Hauptproblem ist ja: 20 Prozent der Schulabgänger sind so schlecht ausgebildet, dass sie nie einen Job bekommen werden, von dem sie leben können.

Stimmt. Wir haben nicht zu wenige Akademiker. Wir haben zu wenig junge Leute, die fachlich und sozial so geschult sind, dass sie eine Lehre beginnen können. Mittelständische Unternehmen brauchen aber genau diese Menschen. Die Ursachen für die vielen Schulversager finden wir überall – im Kindergarten, in der Schule: Dort gibt es zu wenig Ressourcen, um junge Menschen aufzufangen, bevor sie scheitern. Wir intervenieren spät, dann wird es teuer.

Wie könnte man diese Kinder rechtzeitig auffangen?

Zuerst muss ich mit einem Vorurteil aufräumen: Migranten sind nicht das Problem. Migrantenkinder haben bis zur vierten Klassen eine höhere Bildungsmotivation als Einheimische. Das heißt: Diese Kinder wollen etwas lernen. Ihre Eltern wollen, dass ihre Söhne und Töchter erfolgreich sind. Das System schafft es erfolgreich, ihnen das auszutreiben.

Wie muss man sich das vorstellen?

Die Schule baut zu sehr darauf auf, dass wesentliche Bereiche von außen bedient werden. Gute Noten sind meist nicht viel mehr als die Verteilung von Prämien an fleißige Mütter. Wenn Kinder schlechte Leistungen bringen, bedeutet das nicht zwingend, dass es aus einem bildungsfernen Elternhaus kommt. Diese Eltern haben es einfach nicht verstanden, wie unser Bildungssystem funktioniert.

Haben wir in Wien deshalb viele Schulversager, weil Migranten sich im Schulsystem nicht zurechtfinden?

In absoluten Zahlen haben wir mehr österreichische Schulversager. Das Verhältnis ist 3:1. Das ist ein Armutsproblem. Die Eltern sind nicht in der Lage, ihre Kinder so zu unterstützen, dass sie die Schule meistern können. Unser Schulsystem ist nicht so aufgestellt, dass Schüler in der Schule alles lernen können, was sie für den Erfolg brauchen. Die fehlende Unterstützung wirkt sich von Jahr zu Jahr mehr aus. Speziell, wenn neue Fächer dazukommen.

Was müssten die Kinder denn zu Hause lernen?

Eltern müssten mit ihren Kindern lesen üben, Hausübungen machen, usw.

Bildungsministerin Claudia Schmied feiert die Einführung der Neuen Mittelschule (NMS) und den Ausbau der Ganztagsschule als Lösung dieser Probleme.

Das eine ist Betrug, das andere ist Irreführung: Die Neue Mittelschule ist keine neue Mittelschule. Es wird nur die alte Hauptschule wieder eingeführt. An der elenden Übergangssituation von der Haupt- zur weiterführenden Schule ändert sich nichts. Ja klar, es gibt ein paar mehr Lehrer. Aber eine ausreichende Binnendifferenzierung – also dass ich den unterschiedlichen Fähigkeiten der Schüler Rechnung tragen kann – die ist in der NMS nicht vorgesehen. Das Ministerium hat ein Modell vorgeschlagen, von dem niemand weiß, ob es was bringt. Es wurde nicht einmal die wissenschaftliche Auswertung der derzeitigen Versuche abgewartet.

Das gab es in Wien: Die Hauptschulen wurden zu kooperativen Mittelschulen. Sobald die Eltern merkten, dass nur das Türschild ausgetauscht wurde, schickten sie ihre Kinder auf die AHS.

Das ist fatal. In Österreich machen zwei Drittel der Schüler die Matura auf einer berufsbildenden Schule, viele kamen von der Hauptschule. Das hat gar nicht schlecht funktioniert. Das Problem der alten Hauptschule war die dritte Leistungsgruppe. Die wird in der NMS einfach weggezaubert. Der zweite Lehrer in der Klasse soll die Lösung sein. Aus Untersuchungen wissen wir, dass das nicht wirklich etwas bringt. Zudem sieht das Konzept der NMS keinen flexiblen Stundenplan, keine variablen Organisationsformen, keine hinreichend differenzierte Förderung vor. Doch all das zeichnet erfolgreiche Schulen aus. Nichts davon hat die NMS – deshalb ist das Betrug an den Eltern und Schülern.

Und warum ist die Ganztagsschule eine Irreführung?

Um Kinder gezielt fördern zu können, muss ich wissen, wo sie Schwierigkeiten haben. Die Leute, die für die Nachmittagsbetreuung vorgesehen sind – die Freizeitpädagogen – haben diese Ausbildung nicht. Da könnte man erfahrene Mütter hinsetzen, die machen das wahrscheinlich besser. Mit der Ganztagsschule werden Betreuungs-, aber keine Förderprobleme gelöst. Eltern sollten aufpassen: Sie müssen am Abend das leisten, was Schule an Hausübungsbetreuung nicht leistet. Das können verdammt lange Tage für Mütter, Väter und Kinder werden.

Wie müsste eine Schule gestaltet sein, die niemanden zurücklässt?

Schüler müssen die Förderung, die sie brauchen, bekommen. Leider verlassen sich viele Eltern auf die Zusagen des Ministeriums. Sie vertrauen darauf, dass Kinder in der NMS zusätzliche Förderung erhalten und dass der Übergang ins Gymnasium gesichert ist. Sie werden bald merken: Das stimmt nicht. Dann beginnt wieder der Run auf die AHS.

Können Schulen die Kinder derzeit überhaupt so fördern, wie diese es brauchen?

Leider sind die Schulen überreglementiert. Da liegt das Kernproblem. Ich meine: Lasst doch die Leute in der Schule machen. Die wissen vor Ort am besten, was dringend nötig ist. Die Frage ist ja nicht, wie die formalen Strukturen sind, sondern: Was passiert in der Schule? Leider gibt es bei keiner Partei – auch nicht bei den Grünen – die Bereitschaft der Beteiligten, den Schulen Autonomie zu geben. Voraussetzung dafür wäre die gelebte und formale selbstständige Schulpartnerschaft: Eltern, Lehrer, ältere Schüler und die Gemeinden sollen selber entscheiden – und auch selber die Lehrer und die Direktoren aussuchen.

INFO Anfragen per Mail an den Schüleranwalt: schueleranwalt[a]kurier.at

Telefonsprechstunde: Dienstag, 8 bis 10 Uhr, Freitag 15 bis 16 Uhr, 0664/60 700 30 000

Zur Person: Stefan Hopmann

Lehrstuhl Stefan Hopmann (57) lehrt seit Oktober 2005 am Institut für Erziehungswissenschaften der Uni Wien. Er studierte in Deutschland, habilitierte sich an der Uni Oslo und lehrte von 1995 bis 2005 in Oslo und Trondheim.

Schulsysteme Hopmann hat Lehrpläne und Schulsysteme verschiedener Länder verglichen. Sein Fazit: "Es kommt nicht auf die Schulstruktur an, also ob Gesamtschule oder differenziertes Schulsystem. Wichtig ist, was im Unterricht passiert."

 

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