Die lange Suche nach den Wurzeln

Für das erste Treffen mit seiner Tochter legte Nikolaj Taranenko 1989 seine beste Uniform an.
Viele kennen ihren Vater nicht, einer Wienerin ist es gelungen, ihn ausfindig zu machen.

Fast ein halbes Jahrhundert musste Tatjana warten, bis sie ihrem Vater, einem ehemaligen sowjetischen Besatzungssoldaten, zum ersten Mal gegenüberstand. 1989 stieg die Wienerin in Smolensk aus dem Zug. Sie hatte eine lange Fahrt hinter sich, doch die war nichts gegen ihre Aufregung. Als ihr der Mann mit weißen Haaren und dunkler Uniform gegenüberstand, wirkte er vertraut. "Es war, als hätt’ ich in den Spiegel geschaut", sagt die 68-Jährige und holt das Foto, das sie mit ihrem Vater zeigt: Tatjana, damals 44 Jahre alt, strahlt. Sie trägt seine Militärkappe. "Da wirst du wieder zum Kind", sagt sie und streicht mit dem Finger sanft über das Bild.

Die lange Suche nach den Wurzeln
Stelzl-Marx
Vater Nikolaj Taranenko war einer von 400.000 Rotarmisten, die Österreich im Mai 1945 besetzten. Tatjanas Mutter Emilie, eine Schneiderin, lernte den Funker und Flieger 1946 bei einer Tanzveranstaltung in Aspern kennen. Als sie von Soldaten belästigt wurde, ging Nikolaj dazwischen – "das imponierte ihr", erzählt die Tochter.

Liebesbeziehungen zwischen Besatzungssoldaten und Einheimischen waren in allen Zonen üblich. Solange sie diskret blieben, wurden sie toleriert. Von der sowjetischen Militärregierung wurden sie offiziell nicht geduldet. Historikerin Barbara Stelzl-Marx, stellv. Leiterin am Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung und Herausgeberin der "Besatzungskinder", erklärt: "Der Kreml verbat Beziehungen und Vaterschaftserklärungen, so gab es auch keine finanzielle Unterstützung." In Österreich wuchsen geschätzte 30.000 Kinder vaterlos auf – etwa die Hälfte von ihnen entstammen aus Beziehungen zu sowjetischen Soldaten. Und nicht alle waren ein Geschenk der Liebe. In Wien und Niederösterreich gab es etwa 240.000 Vergewaltigungen.

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Stelzl-Marx
Tatjana kam am 17. Oktober 1947 zur Welt. Ohne seine Tochter gesehen zu haben, wurde Nikolaj nach Riga versetzt - eine Maßnahme des Kremls. Die 68-Jährige holt einen Brief hervor, der seinen Adressaten nie erreicht, sondern wieder retour kam. Darin schrieb ihre Mutter 1950 an Nikolaj, den sie "Kolitschka" nannte, wie sie nach ihm suchte. In ihren Schlussworten wird die Hoffnung auf ein Wiedersehen deutlich: "Es wurde schon viel Unmögliches möglich, daher werde ich stark bleiben und glauben und warten, wieder Jahre, Jahre." Sie ahnte nicht, dass es mehr als 40 Jahre dauern sollte.

Aufgrund des Kalten Kriegs, der 1947 einsetzte, war es für die meisten Frauen unmöglich, zu den Vätern ihrer Kinder weiterhin Kontakt zu halten. Die jungen Mütter hatten kein Geld und kamen als Alleinerzieherinnen in eine prekäre wirtschaftliche Lage. Da sich auch Emilie nicht um ihre Tochter kümmern konnte, wuchs Tatjana zeitweise in Heimen und Pflegeplätzen auf, kam aber wieder zur Mutter zurück. Ähnliches erlebte Helmut Köglberger. Seine Mutter gab ihn als Einjährigen weg. Der ehemalige Fußball-Nationalmannschaftsspieler und Trainer wuchs bei seiner Großmutter auf einem Bauernhof in Sierning auf. Über seinen Vater, einen afroamerikanischen GI, hat er bis heute keine Informationen.

Zeit des Schweigens

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Köglberger
"Der Kontakt zu meiner Mutter war lose, weder Großmutter noch Tante sprachen über ihn. Es war die Zeit des großen Schweigens. In der Schule, wenn man etwas über seine Eltern angeben musste, wurde mir immer wieder bewusst, dass ich keinen Vater habe. Oder, wenn wir zum Pfarrer gegangen sind, um dort Kleidung und Schuhe zu bekommen, habe ich auch gemerkt, dass ich nicht vorne dabei war." Das Anderssein als die anderen wollte Köglberger kompensieren. "Ich habe immer versucht, meine Leistung zu bringen – in der Schule und beim Fußballspielen. Ich dachte, wenn ich gut bin, kann niemand was sagen." Dass bei Auswärtsspielen auch Bananen geflogen sind oder rassistische Sprüche kamen, hat ihm sehr wehgetan: "Ich habe aber gelernt, damit umzugehen." Bis auf einige Ausnahmen spielte seine Herkunft im Sport keine Rolle. Heute engagiert er sich selbst für junge Fußballer. Gemeinsam mit seinem Sohn, Stefan, leitet er die Fußball-AkademieAcakoroim gleichnamigen Slum in Nairobi. "Über den Sport werden den Kindern soziale Werte vermittelt, wir wollen sie in ihrem Heimatland fördern", ist Köglberger überzeugt.
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Privat
Der unbekannte Vater blieb dennoch stets in seinem Kopf. Als er und seine Frau Kinder bekamen und diese nach dem Großvater fragten, begann er, das Thema aufzuarbeiten. Während er zu Kindheits- und Jugendzeiten keine anderen Besatzungskinder kannte, hat sich dies in den vergangenen Jahren verändert. "Es ist kein Tabu-Thema mehr. Die Leute wollen darüber sprechen, jetzt bricht alles auf." Damit meint er auch die anderen Erinnerungen an die Kriegszeit: "Uns hat man im Geschichte-Unterricht noch von den Römern erzählt, dass 30 Kilometer von unserem Ort entfernt Menschen vergast wurden, war in keinster Weise ein Thema." Durch die öffentliche Präsenz der "Besatzungskinder" (vor einem Jahr gab es dazu die erste wissenschaftliche Konferenz, Anm.) melden sich sich immer wieder Menschen, die ihm bei der Vatersuche helfen wollen. "Erst kürzlich bekam ich nach einer Fernsehdokumentation einen Anruf, dass jemand aus Bad Hall meinen Vater und meine Mutter kannte." Letztere ist schon vor vielen Jahren verstorben. Helmut Köglberger konnte ihr dennoch verzeihen, da ihm bewusst wurde, wie schwer es auch für sie war.

Schwer hatte es auch Tatjana, als sie in die Schule kam. Ein Lehrer nannte sie "Helene", ihr Name war ihm zu Russisch. "Wenn ich in Groß-Enzersdorf durch die Gassen gegangen bin, haben die Leute die Fenster zug’haut – das Russenkind ist da." Die "Russenkinder" oder "Russenbankert" waren für viele Menschen "Kinder des Feindes" – sie wurden innerhalb der eigenen Familie und der Nachbarschaft abgelehnt und diskriminiert. Das von den Nationalsozialisten propagierte russische Feindbild spukte noch in vielen Köpfen herum. Und da die sowjetischen Soldaten das öffentliche Leben im Osten des Landes dominierten, fühlten sich viele zunehmend bedroht. Aus Angst, stigmatisiert zu werden, schwiegen viele Frauen, auch gegenüber ihren Kindern.

Die lange Suche nach den Wurzeln
Zeitzeugin, Tatjana Herbst
Tatjanas Mutter sprach mit ihr sehr früh über den Vater – allerdings nur, wenn sie alleine waren. "Mutter hat immer den Finger auf den Mund gelegt, es durfte uns niemand hören." Die Suche nach ihren Wurzeln, ihrer Identität, verfolgte sie das ganze Leben. Über eine Bekannte, die Kontakte zum Roten Kreuz hatte, erfuhr sie Mitte der 1980er-Jahre, dass ihr Vater noch lebte. 1989 reiste sie nach Smolensk, mit einem ungewissen Gefühl: Nikolaj Taranenko hatte eine Familie gegründet. Doch ihre zwei Halbgeschwister nahmen sie herzlich auf. Zwei Jahre später kam sie mit ihrer Mutter zu ihm. Es passierte Ungewöhnliches: "Sie wurde während der Zugfahrt immer jünger." Als sie einander wiedersahen, hielt das einstige Paar Händchen und küsste sich. Die gemeinsame Zeit, das Wiedersehen in Smolensk, war kurz, aber intensiv. Die beiden schrieben einander danach noch zahlreiche Briefe. Nikolaj starb 1994, Emilie 2014.

Tatjana und ihre Halbschwester haben seit einiger Zeit wieder Kontakt. Sie hofft auf ein Treffen: "Ich habe noch viele Fragen, ich möchte, dass sie mir noch mehr über meinen Vater erzählt."

Buchtipps:

Die lange Suche nach den Wurzeln
Böhlau Verlag
"Besatzungskinder", herausgegeben von Barbara Stelzl-Marx und Silke Satjukow, Böhlau Verlag, 35 €
Die lange Suche nach den Wurzeln
Campus verlag
"Bankerte" - Besatzungskinder in Deutschland nach 1945, von Rainer Gries (Professor an der SFU Wien) und Silke Satjukow (Professorin für Geschichte der Neuzeit, Universität Magdeburg), erschienen im Campus Verlag, 29,90 €

Lesung: Dienstag, 12. Mai um 17.30 Uhr an der Sigmund Freud PrivatUniversität, Saal 1001, Campus Prater, Freudplatz 1, 1020 Wien

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