Yann Tiersen: "Wir sollten uns selbst nicht so wichtig nehmen"
Beim dritten Versuch klappt es. Yann Tiersen meldet sich am anderen Ende der Leitung zu Wort – zaghaft, aber immerhin. Dass man den Komponisten, dessen Songs den kommerziell höchst erfolgreichen Kinofilm „Die fabelhafte Welt der Amélie“ begleiten, telefonisch erreicht, ist ein Glücksfall. Denn der Franzose ist nach dem Erfolg mit „Amelie“ zum Eigenbrötler geworden, der lieber mit seinen Ziegen als mit Journalisten spricht.
Seit mehr als zehn Jahren lebt der 48-Jährige im Nirgendwo des Atlantiks, auf der„Insel des Weltendes“, wie Ouessant auch genannt wird. Dort ist der Handy-Empfang noch vom Wetter abhängig (bei Schlechtwetter geht nichts) und auch sonst führt er dort ein beschauliches Dasein – die meisten der 900 Einwohner sind Fischer, Bauern oder Zivilisationsflüchtlinge.
„Ich lebe ein einfaches Leben, und daraus entsteht meine Musik. Sie ist eine Reflexion meines Alltags. Das heißt, diese Landschaft inspiriert mich nicht nur. Es ist eher eine tiefe Verbundenheit, die ich fühle“, sagt er am Telefon. Mit seinem Klavierwerk „Eusa“ hat er der Insel 2016 auch ein musikalisches Denkmal gesetzt. Nun legt er zwei Jahre später „All“ nach, ein elf Songs umfassendes Album, das den thematischen Faden des Vorgängers aufgreift: Die Natur – und wie sie klingt.
Tempelhof
Jede Naturaufnahme auf „All“ hat eine tiefere Bedeutung. Das Vogelgezwitscher, das man im Song „Koad “ hört, wurde im Redwood-Nationalpark in den USA aufgenommen, wo die gigantischen Mammutbäume beheimatet sind. Auf der „Usal Road“ geht es dann die Küste Kaliforniens entlang. In diesem Lied nimmt Tiersen auf ein symbolisches Schlüsselerlebnis Bezug: Er und seine Frau mussten während einer Radtour in den Redwoods vor etwa vier Jahren vor einem Puma fliehen.
„Tempelhof“ ist dem gleichnamigen Berliner Flughafen gewidmet, der 2008 aufgelassen wurde und nun als urbanes Naherholungsgebiet dient. Für Yann Tiersen sind Flughäfen das Symbol des menschlichen Untergangs, des Turbokapitalismus’. Und Tempelhof sei eben genau das Gegenteil davon. Dort holt sich die Natur schön langsam ihren Lebensraum zurück, was Yann Tiersen freut. „Wir sind nur Teil des Ganzen. Nur Bewohner der Erde. Die Natur wird uns alle überleben. Wir sollten uns selbst nicht so wichtig nehmen. Leider ist das Gegenteil der Fall. Viele Menschen haben längst den Bezug zur Natur verloren.“
Yann Tiersen hat ihn zum Glück, wie er sagt, in Ouessant wiedergefunden. Kein Wunder, dass der Vertreter der Minimal Music an diesem Ort Inspiration schöpft.
Damit er die Insel nicht mehr verlassen muss, hat sich dort der gefeierte Komponist sein eigenes Studio gebaut. Dafür wurde eine verlassene Diskothek umfunktioniert. „Früher musste ich immer in eine größere Stadt, um ein Album aufzunehmen, das hat sich nun endlich erledigt. Jetzt kann ich hier alles selber machen“, sagt Tiersen, der seine Musik so aufnehmen will, wie man es früher gemacht hat. Mit 24-Spur-Tonbangerät, analogem Equipment und ohne Zeitdruck.
„All“ sei dann auch das erste Album, das zur Gänze in seinem neuen Studio produziert wurde. Die elf darauf zu findenden Songs werden von sanften Klavier-Melodien getragen und sind experimenteller als das meiste, was Tiersen bislang komponiert hat. Die Liebe zu seiner Heimat, der Bretagne, und der der dazugehörigen Sprache, zieht sich wie ein roter Faden durch die Musik. So wird neben Französisch auch Bretonisch gesungen. Als Gastsängerin konnte Yann Tiersen u. a. Anna von Hausswolff gewinnen.
Ärgerlich
Zum Abschluss den Gesprächs frage ich Yann Tiersen, ob ich ihn noch etwas zu „Die fabelhafte Welt der Amélie“ fragen darf.
Ich darf. „Es ist okay. Ich habe kein Problem damit, darüber zu reden. Aber ich muss klarstellen: Ich habe dafür nicht extra die Musik geschrieben, sondern ich habe dem Regisseur ältere Songs von mir zur Verfügung gestellt, was ich im Nachhinein bereut habe. Denn meine Musik hat überhaupt nichts mit diesem Paris- und Frankreich-Klischee zu tun, das ‚Die fabelhafte Welt der Amélie‘ transportiert. Zum Beispiel bezieht sich der Song ‚The Drowned Girl‘ eigentlich auf ein Bootsunglück vor Ouessant mit 200 Toten. Im Film wird das Lied dann bei einer sonnendurchflutete Szene eingesetzt. Sehr ärgerlich.“
Kommentare