Im tiefen Industriegebiet bleibt das Alpenpanorama nur blasse Kulisse

Aufmacher: Winterdieb
Diese Woche neu im Kino: Ursula Meiers preisgekrönter Film "Winterdieb" + "Pieta" von Kim Ki Duk + "Das Leben ist nichts für Feiglinge"

Ein nobles Ski-Ressort in den Alpen der französischen Schweiz. Sofort denkt man an blitzblaues Bergpanorama, glitzernden Pulverschnee und offenes Kaminfeuer im exklusiven Chalet.
Doch nichts, oder fast nichts davon bekommt man in Ursula Meiers neuem, mehrfach ausgezeichneten Drama zu sehen.
Die französisch-schweizerische Regisseurin interessiert sich nämlich mehr für die Spinde der Saisonkellner, als für die Aussicht von der Luxusterrasse.
Konsequent erzählt sie aus der Perspektive eines 12-jährigen Buben namens Simon, der in einer Sozialsiedlung wohnt und täglich mit der Gondel den Berg hinauf fährt.

Diebisch

Dort stiehlt er alles, was er kriegen kann. Schi, Schibrillen, Schimasken, Schihandschuhe – und sogar die Sandwiches, die sich die Hautevolee des Morgens als Proviant geschmiert hat.
Zurück im Tal vercheckt er die Beute an andere Kinder aus der Sozialsiedlung. Und das Geld gibt er seiner älteren Schwester Louise.

Meier ist auf bizarre Familiensituationen spezialisiert. In ihrem Filmdebüt „Home“ erzählte sie von einer Familie, die neben einer Autobahn wohnt. In „Winterdieb“ ist die Familie auf ein verelendetes Geschwisterpaar zusammengeschrumpft, das in einem hässlichen Wohnbau seine schlampige Bleibe hat. Die Pracht des Alpenpanoramas im Hintergrund nimmt sich da fast wie Hohn aus.

Kulisse

Aber weder Simon und seine kleinen Komplizen, noch die hervorragende Kamerafrau Agnès Godard verschwenden einen Blick auf Naturschönheit. Für sie bleibt sie bloß Kulisse für eine Schattenwirtschaft, die sich hinter dem Rücken der Edeltouristen abspielt.

Kacey Mottet Klein – ein echter Glücksgriff für diese Rolle – spielt seinen diebischen Habenichts mit der Umsicht des Kleinunternehmers. Jeder Tourist ist für ihn ein potenzieller Lieferant begehrenswerter Markenprodukte. Doch auch die Reichen zeigen ein hässliches Gesicht. Als Simon einem schicken Skifahrer die Sonnenbrille klaut, schlägt dieser ihn kalt nieder. Das Privateigentum kennt kein Pardon, auch nicht für Kinder.

Ursula Meier spielt nicht auf der Klaviatur des gefühligen Sozialdramas, das mit aufrüttelnder Botschaft endet. Stattdessen beschränkt sie sich auf genaue Beobachtungen mit klaren Bildern.

Es gibt auch keine staatlichen Autoritäten, Polizisten oder Fürsorger, die als moralische Instanz auftreten. Vielmehr bleibt die Welt zwischen Simon und Louise ihrer ganz eigenen Logik und auch ihrer eigenen Moral verpflichtet.

Kuscheln gegen Geld

Wenn Simon mit seiner Schwester kuscheln will, muss er 200 Franken zahlen. Wenn sie einen neuen Freund nach Hause schleppt, tut sie so, als wäre Simon nur vorübergehend zu Besuch. Dann wieder rollen die beiden kichernd über den Boden oder graben einen Weihnachtsbaum aus.

Die tolle Léa Seydoux spielt ihre Louise mit der rotzigen Renitenz und der Schönheit eines kleinen verletzlichen Mädchen. Es ist letztlich ihre Beziehung zu Simon, die auf dem Spiel steht. Zwar werden alle Beziehungen in „Winterdieb“ beinahe ausschließlich über Geld reguliert.

Doch am Ende steht nicht die Frage im Zentrum, ob Simon und Louise genug Mittel zum Überleben haben. Sondern ob es genug Liebe zwischen ihnen gibt.

KURIER-Wertung: **** von *****

Info: Winterdieb. F/CH 2012. 97 Min. Von Ursula Meier. Mit Kacey Mottet Klein, Léa Seydoux.

Pieta.Wer sein Geld nicht zurückzahlen kann, wird verstümmelt. Seine Beine werden gequetscht, die Hand durchbohrt, oder der ganze Mann wird vom Balkon gestoßen. Hauptsache, er ist verkrüppelt. Dann zahlt die Versicherung Schadenersatz, und der Betroffene kann seine Schulden begleichen.

Es zählt zu den eher unerfreulichen Anblicken, Menschen dabei zuzusehen, wie ihre Gliedmaßen malträtiert werden. Der koreanische Regisseur Kim Ki Duk nimmt in seinem 18. Spielfilm wenig Rücksicht auf Magennerven. Im Gegenteil: Beinahe sadistisch erzählt er sein mit Pathos überhöhtes Mutter-Sohn-Drama mit exzessiver Brutalität.

Anfänglich scheint nur einer in Kim Ki Duks Jammertal besser dazustehen: Es ist der Knochenbrecher Kang Do. Unbeeindruckt verwundet er die Klienten. Bis sich eine Frau an seine Fersen heftet und behauptet, seine verschollene Mutter zu sein. Sie lehrt ihn Mitleid – allerdings in mörderischer Mission. Kim Ki Duk zielt offensichtlich auf Gesellschaftskritik ab.

Seine Rachegeschichte spielt in einem Abrissviertel von Seoul und erzählt vom Verschwinden der Kleinhandwerker. Doch weder als Polit-Parabel noch als Familienmelodram vermag „Pieta“ zu überzeugen. Trotzdem erhielt der Film den Goldenen Löwen von Venedig.

KURIER-Wertung: *** von *****

Info: ROK 2012. 104 Min. Von Kim Ki Duk. Mit Jo Min Soo, Kang Eujin, Kim Jae Rok.

Allein der Begriff „Tragikomödie“ ist oft schon eine Drohung. Er bedeutet so viel wie: Es darf ein bisschen an Krebs gestorben werden, aber nie so, dass es wirklich weh tut. Dafür sorgt milder Humor. Und der Zuseher trägt eine Träne im Knopfloch. Auch die von deutscher Kritik viel gelobte Tragikomödie „Das Leben ist nichts für Feiglinge“ setzt auf die bewährte Melancholie-Humor-Mischung. Es fängt bereits tragikomisch an: Eine Ehefrau und Mutter ist verunglückt. Aber nicht etwa im Auto oder beim Sport, nein. Sie strangulierte sich mit ihrer Perlenkette, während sie im Kindergarten Girlanden aufhängte. Typischer Fall von komisch-melancholisch.

Man weiß gar nicht, ob man lachen darf oder muss. Jedenfalls haben der zurückgebliebene Ehemann und seine Goth-Tochter mit viel Melancholie zu kämpfen. Und dass die Großmutter an Krebs leidet, macht die Sache nicht leichter. Ehrlicherweise muss man sagen, dass das Ensemble – allen voran Wotan Wilke Möhring – sensibel und engagiert agiert. Einen immer wieder berührt – und auch zum Lachen bringt.

KURIER-Wertung: *** von *****

Info: D 2012. 98 Min. Von André Erkaus. Mit Wotan Wilke Möhring.

Schon seit längerem droht Steven Soderbergh seinen Rücktritt als Filmemacher an. Das ist schade – auch im Angesichts seines fetzigen Thrillers „Side Effects“, der Jude Law als karrieresüchtigen Psychiater ganz schön in die Enge treibt. Nachdem er einer zarten Patientin (Rooney Mara) ein neues Anti-Depressivum verschreibt, wird diese zur mörderischen Messerstecherin. Unvorhergesehene Nebeneffekte – und der Herr Doktor gerät in die Mühlen von Justiz und Pharmaindustrie.

KURIER-Wertung: **** von *****

Info: USA 2013. 106 Min. Von Steven Soderbergh. Mit Jude Law, Rooney Mara, C. Zeta-Jones.

Scary Movie 5

Horror: Und wieder eine Horror-Persiflage: Ein Ehepaar nimmt verwahrloste Kinder auf. Und dann passieren unheimliche Dinge. Mittelmäßig lustig.

KURIER-Wertung: *** von *****

Heute bin ich blond

Tragikomödie: Eine junge Frau erfährt, dass sie an Krebs leidet. Doch das hält sie nicht davon ab, mit großer Lebenslust an die Krankheit heranzugehen. Tragikomödie von Marc Rothemund.

KURIER-Wertung: *** von *****

Violeta Parra

Bio Pic: Lebensverfilmung der chilenischen Sängerin Violeta Parra, die durch den Song „Gracias a la vida“ berühmt wurde.

KURIER-Wertung: *** von *****

Jäger des Augenblicks

Doku: Spannende Alpin-Doku über die abenteuerliche Expedition eines Kletterer-Trios in Südamerika.

KURIER-Wertung: **** von *****

Blutsbrüder teilen alles

Drama: Wolfram Paulus erzählt die beschwingte Geschichte einer Bubenfreundschaft während des Zweiten Weltkrieges. Einer der beiden schwebt in Lebensgefahr, weil er Jude ist.

KURIER-Wertung: *** von *****

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