Wirklichkeit ist abgeschafft

Festwochen
Nicolas Stemanns "Kommune der Wahrheit" macht bei den Festwochen Station.

Nein, Nicolas Stemann will diesmal nicht spielen. Schon gar nicht Theater. Denn: „Wir haben ja kein Stück.“ Und Stemann spielt doch. Aber der deutsche Regisseur, der vor allem für seine sprachlich bezwingenden und bildgewaltigen Umsetzungen von Jelinek-Texten bekannt ist, will jetzt mehr, viel mehr.

Denn Stemann ist auf der Suche nach der ultimativen Wahrheit. Jener Wahrheit, die sich hinter den Nachrichten des Tages verbirgt. Zu diesem Zweck hat er eine „Kommune der Wahrheit“ ins Leben gerufen, die auch bei den Wiener Festwochen im MuseumsQuartier (Halle E) Station macht. Das Ziel: Ein loses „Nachrichtentheater“, das aktuelle Meldungen zum theatralischen Spielball kritischer Reflexionen macht.

Nachrichtenflut

Und das geht so: 120 Stunden lang schließen sich die Kommunarden in einem Raum ein und setzen sich der Flut an Nachrichten aus. Am Abend werden die Tore geöffnet, und das Spiel mit der Wirklichkeit beginnt. Tote in Syrien, Gusenbauer unter Spionageverdacht, Demonstrationen in der Türkei, Proteste gegen Heidi Klum, deutsches Pokalfinale oder Unwetter in ÖsterreichStemann und sein sechsköpfiges Haupt-Ensemble (Franziska Hartmann, Daniel Lommatzsch, Barbara Nüsse, Jörg Pohl, Sebastian Rudolph, Birte Schnŏink) tragen all diese Meldungen vor. Streng chorisch, bewusst asynchron, dann als Schlaflied, im Arien-Ton, als Schnulze, Chanson oder gar im Musical-Stil.

Zwei Seiten

Das alles passiert in einem mit Video-Monitoren (auch Semi-Dokus über das Leben in der Kommune gehören dazu), Kabeln und Matrix-Reminiszenzen versehenen , geteilten Raum. Die Zuseher werden gegeneinander „ausgespielt“. Buh-Rufe auf der einen Seite, Jubel auf der anderen – die Ambivalenz der Beurteilung ist Stemanns Ziel. Denn es gibt bekanntlich „einerseits“ und „andererseits“ – man kann die Dinge so oder auch so sehen.

Das klingt platt? Noch dazu mit gewollten (und einigen ungewollten) Pannen? Nein, ist es ganz und gar nicht. Das Theater des Nicolas Stemann gehört zum Aufregendsten, was die deutschsprachigen Bühnen in den vergangenen Jahren hervorgebracht haben. Denn hier trifft das Theater auf die Wirklichkeit, hier wird das Unzulängliche zum Prinzip erhoben. Viel menschlicher geht es also nicht mehr.

Dschungelcamp

Ein Bruch existiert: Wenn Stemann zum Finale „Außenkorrespondenten“ wie ORF-Moderator Eugen Freund oder den Verschwörungstheoretiker Matthias Bröckers nebst Dramaturg Carl Hegemann um das kommunale Lagerfeuer versammelt, ist Dschungelcamp-Atmosphäre angesagt. Doch auch das ist einkalkuliert. Und wird in Zukunft besser gemacht. Denn morgen ist ja ein neuer Tag, die Kommune wird weiterziehen. Assoziierte Mitgliedschaft durchaus erwünscht.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Stück: Gibt es nicht. Nicolas Stemann und seine Kommunarden werfen die „Wirklichkeitsmaschine“ (so der Untertitel) an. Das Ergebnis ist eine aufregende, infantile, lustige, gallige, geistreiche Aufforderung zum Denken.

Spiel: Das Ensemble spielt nicht im klassischen Sinn, huldigt aber dem Spieltrieb. Widersprüche bleiben als solche bestehen und sind Sinn und Zweck des Unternehmens. Grandios die Musikalität aller Beteiligten. Sensationell die Nachwirkung im Kopf. Experiment gelungen.

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