In ungebremster Infoflut

Festwochen
Die „Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine“ von Regisseur Nicolas Stemann.

Mit der Unmöglichkeit, die Welt zu fassen, beschäftigt sich Nicolas Stemann in einer happeningartigen Aktion unter dem Titel „Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine“ – bewegt von der Frage: Haben wir den medialen Wirklichkeiten, die tagtäglich ungebremst auf uns einströmen, etwas entgegenzusetzen?

Für das spezielle Theater-Projekt exponieren sich der Regisseur und seine Schauspieler 120 Stunden ununterbrochen dem Nachrichtenstrom, um ihn dann theatralisch umzusetzen. „Wir setzen uns direkt und unmittelbar dem Tagesgeschehen aus und schauen, wie daraus trotzdem Theater werden kann“, sagt Stemann, der lange als eines der größten Talente unter den deutschen Nachwuchsregisseuren galt. Seine Inszenierungen von Goethes „Faust“ oder Elfriede Jelineks „Die Kontrakte des Kaufmanns“ begeisterten Publikum und Kritiker.

Experiment

Aber seit einiger Zeit produziert Stemann offenere Formate, bei denen viel improvisiert wird: „Ich habe immer mehr gemerkt, dass im Unberechenbaren vom Theater eigentlich die Kraft liegt und die Chance, weil man es sowieso nicht in der Hand hat.“ Er versuche eine Spannung aufzubauen zwischen dem Berechenbaren und dem Unberechenbaren und sei dabei als Regisseur „immer verzweifelt am Kämpfen“.

„Man will ja, dass Dinge einen bestimmten Rhythmus haben, dass das komponiert ist. Ich verbringe viel Zeit mit Proben, um Sachen ganz genau zu strukturieren und zu komponieren.“

Stemann stellt sich neuerdings beim neuen Theaterformat, an dem er arbeitet, selbst auf die Bühne – meist als Musiker, als Live-Regisseur oder als Moderator: „Diese drei Tätigkeiten übe ich aus, wenn ich in meinen Sachen selber mitspiele. Ich verstehe mich nicht als Schauspieler, das ist auch nicht mein Ehrgeiz.“
Wie viele tagesaktuelle Ereignisse verträgt Theater?

„Ich weiß noch nicht, wo dieses Experiment hinführt. Die Idee war, eine Wirklichkeitsmaschine zu konstruieren, die es schafft, quasi in Echtzeit die Ereignisse, die am jeweiligen Tag passieren, in Theater zu übersetzen. Oder in theatrale künstlerische Energie.“

Ohne Zynismus

Letztendlich stehe da auch ein philosophischer oder ganz theaterpraktischer Gedanke dahinter: Wenn an die Stelle des Autors und des Stücks tatsächlich nur das vielstimmige Meinungs- und Stimmengewirr der Nachrichten tritt, was macht das dann mit uns? Was macht das mit den Schauspielern als Figuren? Was macht das mit uns als Menschen?

„Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine“ sei „eine ganz gute Beschreibung dafür, wie wir leben, wie wir mit Informationen über die Welt ausgesetzt sind und damit umgehen“, so Stemann. „Und zu schauen, wie Kunst beschaffen sein muss, damit sie ein Puffer sein kann, damit sie hilft, mit dieser Informationsflut umgehen zu können – vielleicht auf eine andere Art als die normale zynische, mit der wir das letztlich sowieso tun.“

Info: 1., 2., 4. und 5. 6. (19 Uhr), MuseumsQuartier, Halle E

Regisseur und Musiker


Zur Person
Nicolas Stemann, geboren 1968 in Hamburg, studierte Regie am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und am Institut für Theater, Musik- theater und Film in Hamburg.

Theaterarbeit
Er hat seit den 90er-Jahren zwi- schen Wien, Basel und Hamburg eine Regiehandschrift entwickelt, die das Spektakel der Popkultur mit dem Anspruch der Hochkultur vereint und oft mit dem Mittel der Unvorhersehbarkeit spielt. Mal dringt er mit strenger Texttreue, dann wieder mit Improvisationen, Puppentheater und Rockband zum Kern der Stücke vor.

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