Festwochen-Chef Milo Rau: "Letztes Jahr haben wir zu viel provoziert"

Milo Rau, Intendant der Wiener Festwochen, ist geradezu ein Marketingstratege. Das Programmbuch wurde drei Tage vor der Pressekonferenz ausgeliefert (die Freitagvormittag stattfindet).
Ein Malheur? Wohl kaum. Sondern Gesprächsstoff. Und dann empfängt Rau, der gerne den naiven Schweizer spielt, den KURIER – in seinem Kostüm, einem Blaumann mit aufgenähtem Logo „Republic of Love“ ...
KURIER: Sie rufen heuer die „Republik der Liebe“ aus. Man hat aber den Verdacht, dass Sie das mit der Liebe nicht ganz so ernst meinen.
Milo Rau: Doch! In einer Zeit des Hasses und der Trennung müssen wir uns auf Verbindendes konzentrieren. Natürlich sehen wir das Verbindende nicht unkritisch: Liebe ist auch ein Machtapparat, geprägt von Missbrauch und Unterwerfung. Aber im Zentrum der „Republik der Liebe“ steht ein sehr positiver, verbindender Liebesbegriff.
Mit der Erfahrung der letzten Festwochen: Das glauben wir Ihnen nicht.
Ich will ein Festival für alle machen. Meine Strategie ist der dialektische Schritt: Nach der Spaltung sind wir wieder vereint. Mit der Eröffnung zum Beispiel will ich alle versöhnen: mit dem Mozart-Chor, einer traditionellen Blasmusik zusammen mit der Band der Republik und einer Schamanin, mit allen möglichen Stars, darunter Nicole, mit Punk, Oud, Laurie Anderson und einem kongolesischem Tenor. Ein Vorwurf, vielleicht auch vom KURIER, war, dass wir nur einen Teil der Bevölkerung ansprechen. Das also wird der erste Musikabend sein, der wirklich 100 Prozent der Bevölkerung, wenn nicht sogar 101 Prozent, anspricht.
Aber Sie wollen auch spalten: Im Programm der „Wiener Kongresse“ stehen Namen wie Rammstein, Florian Teichtmeister, Otto Muehl, die RAF kommt vor, auch Judith Butler, die die Debatte um altlinken Antisemitismus angefacht hat. Lauter Namen, die in der einen oder anderen Blase für Aufregung sorgen – und eigentlich schon durchdiskutiert sind.
Der erste Satz, den ich meinem Team immer sage, ist: Was am meisten besprochen wurde, wurde am wenigsten durchdrungen. Die #MeToo-Debatten haben zu nichts geführt, weil ja letztlich Aussage gegen Aussage stand. Es waren alle noch mehr traumatisiert und Karrieren wurden zerstört.
Und jetzt?
Wir wollen nicht eine weitere wirre Debatte hinzufügen, sondern bei den „Wiener Kongressen“ diese Fragen von wirklichen Experten diskutieren lassen. Handelt es sich bei dem, was in Gaza passiert, um Völkermord? Oder ist allein schon das Formulieren dieser Frage Antisemitismus? Das muss ein Völkerrechtler beantworten. Wie hätte das Burgtheater, die Filmindustrie, der ORF auf den Fall Teichtmeister reagieren müssen? Warum ändern Fälle wie die von Rammstein nichts in der Struktur der Musikindustrie – oder muss man Künstler und Kunst trennen? Warum wurde Judith Butler von rechts gecancelt?
Es überrascht ein bisschen, dass die Cancel Culture jetzt noch Thema der Festwochen wird – die ist doch längst nur noch eine Wahlkampftaktik der Rechten, eine nützliche Fiktion, die sonst niemand mehr ernst nimmt. Wo gibt es noch Cancel Culture, wen kümmern Shitstorms?
Durch die Shitstorms auf Social Media werden Institutionen gezwungen, Dinge nicht zu machen – das hat man 2024 gesehen, als wir Konzerte mit der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv und mit Teodor Currentzis programmiert haben.
Vermarktet im Doppelpack.
Ja, da sind wir gescheitert: Es gab so viel Druck, dass wir schließlich Currentzis gecancelt haben. Völlig verständlich aus ukrainischer Sicht, aber ist das nicht auch ein Problem für die Kunstfreiheit? Und man denkt bei Cancel Culture immer an links, aber es gibt ganz viele Fälle, die von rechts gecancelt werden.
Aber welche Karriere soll durch Cancel Culture zerstört worden sein? Currentzis dirigiert bei den Salzburger Festspielen. Rammstein sind auf Tournee und haben Hunderttausende Zuseher.
Bedeutet nicht genau das, dass die Diskurse nicht geführt worden sind? Und die Frage, die sich uns stellt, ist: Wie können wir als Institution damit umgehen, wenn Druck aufgebaut wird, dass Künstler nicht auftreten sollen. Sind wir also stark genug? Was passiert zum Beispiel, wenn wir eine Produktion aus Israel einladen?
Nichts.
Ihr Wort in Gottes Ohr! Tausende führende Intellektuellen aus aller Welt haben einen Brief unterschrieben, dass man nicht mehr mit israelischen Institutionen arbeiten soll – ich übrigens nicht. Ich denke, gerade in der heutigen Zeit – und gerade in Israel und Palästina – muss man dissidente, demokratische Institutionen unterstützen. Aber Fakt ist: Es fließt nun über die Festwochen öffentliches Geld an eine israelische Produktion. Das wird einigen nicht gefallen.
Das hoffen Sie doch eigentlich, oder? Sie suchen Protest, Reaktion. Das nennt man Engagement Bait. Sie werfen inhaltliche Köder aus und schauen, wer zuschnappt.
Ich wünsche es mir nicht! Aber ich weiß, wie die Kunstwelt ist. Und ich scheitere offensichtlich. Denn eigentlich dachte ich, letztes Jahr haben wir zu viel provoziert – und dieses Jahr setzen wir dafür auf Liebe.

Das Cover des Programmbuchs zeigt zwei nackte, sich liebende Männer, drinnen wird mit Boulevardphrasen wie „Skandaltext“ und „Radikalperformerin“ und „Diskurs-Orgien“ Aufregung herausgefordert. Das mahnt nicht Liebe, sondern andere Emotionen ein.
Nach dem Shitstorm bei der Uraufführung von „Burgtheater“ 1985 in Bonn war Elfriede Jelinek traumatisiert. Was damals passiert ist, macht „Burgtheater“ zum Skandaltext. Wir fragen uns: Ist er das auch heute noch? Oder vielleicht doch nicht mehr? Also: Was ist das Uneingelöste dieses Klassikers? Das gilt auch für „Mutter Courage“ von Bertolt Brecht: Ich habe die Inszenierung, die wir bei den Festwochen zeigen, bei der Premiere gesehen. Und es kam mir vor, als wäre dieser Text für heute geschrieben.
Eine Marketenderin als Profiteurin des Krieges scheitert dabei, ihre Kinder durchzubringen. Obwohl sie sogar ihre Tochter den Soldaten zuführt.
Ja, ihre Tochter wird vergewaltigt, umgebracht, hingerichtet. Diesen Aspekt des Körpers der Frau im Krieg habe ich bisher nie beachtet. Und plötzlich wird dieses sehr aktuelle Thema, diese extreme, sinnlose Gewalt – des Kapitalismus, des Kriegs – sichtbar. Das fand ich interessant.
Warum muss man etablierte Performancepositionen immer skandalisieren?
Wie soll ich sagen? Das ist halt einfach Fakt. Es sind Radikalperformances! „Der Lesbengarten“ von Rébecca Chaillon und Sandra Calderan ist für eher sensible Gemüter wie mich eine Trigger-Warnung wert.
Die Trigger-Warnung fordert doch eher auf: Schaut her!
Vielleicht braucht es tatsächlich keine Trigger-Warnung für die Wiener. Ihr seid ja mit dem Aktionismus groß geworden, aber ich als Schweizer … Die Schweizer und Deutschen werden ja schnell mal ohnmächtig, wie man bei „Sancta“ gesehen hat. Für alle Nicht-Wiener ist einiges ein bisschen zu radikal.
Zurück zu „Burgtheater“: Die Ankündigung beginnt mit einem Jelinek-Zitat: „Wenn man’s in Wien aufführt, wird’s sicher der größte Theaterskandal der Zweiten Republik.“ Da wir doch noch nicht die Dritte Republik haben: Was machen Sie als Regisseur, damit „Burgtheater“ tatsächlich der versprochene Skandal wird?
Wir machen zunächst, am 8. Mai zum 80. Jahrestag des Kriegsendes, eine radikale, komplette Ur-Lesung auf der Bühne des Burgtheaters. Ich will diesen Text zum Strahlen bringen. Und zehn Tage später folgt eine Art historisch-politische Installation mit einer riesigen Drehbühne. Die Frage lautet: Was ist eigentlich Mitläufertum? Kann es sein, dass die Geschichte sich gerade wiederholt? Im ersten Akt sind alle Österreicher Nazis, die Künstler alle böse, Paula Wessely ist ein Psycho, Attila Hörbiger ein Wichser und Paul Hörbiger ... Jelinek bezweifelt, dass er Widerstandskämpfer war. Das Interessante ist für mich aber der zweite Akt: Die Russen stehen vor Wien, und der zufällig im Schrank entdeckte, jüdische Überlebende wird instrumentalisiert und quasi zu Tode umarmt. Jetzt brauchen die Völkermörder plötzlich einen Juden, um den Übergang in den Nachkrieg zu schaffen, um weiterzumachen. Anti-Antisemitismus als Holocaustleugnung: Das finde ich, wenn ich an Strache denke, der sich mit seiner Burschenschafter-Kappe in Yad Vashem ablichten liess, prophetisch. Keine Lehre, keine Zerknirschung – nur eben neues Mitläufertum, neue Lügen, neue Gewalt.
Aber wo bleibt bei diesem Befund der Skandal?
Ich persönlich finde Skandale immer spannend, aber es muss kein Skandal sein! Man kann ja auch einfach etwas einsehen, so im Schillerschen Sinn: Theater als moralische Anstalt. Und wir haben unseren Skandal mit den wunderbaren Neuinterpretationen der „Möwe“ von Tschechow oder dem „Kalkwerk“ von Thomas Bernhard, die wir auch zeigen.
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