Existenzen am Rand
Schreiberisch gekonnt und historisch kenntnisreich verwebt Haller die vier Biografien zu einer packenden Erzählung. „Ein finsterer, pockennarbiger Mann stieg im Jänner 2013 am Wiener Nordbahnhof mit seinen Bauernstiefeln aus dem Zug“: Von Beginn weg (hier geht es um Stalin) zieht Haller die Leser in seinen Bann.
Der Autor sieht auch – bei allen Unterschieden – Gemeinsamkeiten zwischen den vieren: „Alle wurden sie an der Peripherie ihrer Staaten geboren, und sie standen auch in ihrer Gesellschaft am Rand.“ Die Denkmuster, denen sie anhingen, „Marxismus, Sozialdarwinismus, Rassismus, Nationalismus, stammten aus dem 19. Jahrhundert“. Und, wichtiger noch: „ Ihr Aufstieg aus ärmlichen Verhältnissen war nur möglich, wenn die alten Ordnungen zusammenkrachten.“ Was bekanntlich unmittelbar bevorstand.
Ihr Verhältnis zu Wien war freilich sehr unterschiedlich. Während Trotzki sich in der Stadt wohlfühlte, die Kaffeehäuser liebte, in denen er Zeitungen las, Schach spielte und diskutierte, hasste Hitler die Metropole: „Was er in Wien sah, bestärkte ihn in seiner Abwehrhaltung gegenüber dem Vielvölkerstaat, in dem er lebte. Er wurde zunehmend radikalisiert.“
Auch Stalin hatte kein Interesse am urbanen Lebensgefühl, „die Kaffeehausexistenz der ‚Salonbolschewisten‘ in Wien, Genf oder Berlin interessierte ihn nicht“. Er war im Auftrag Lenins nach Wien gekommen: Lenin hatte damals die Nationalitätenfrage als zentral erkannt und dachte, „Österreich-Ungarn wäre da das ideale Studienobjekt“.
Der junge kroatische Schlosser Josip Broz hingegen war auf seiner Walz über Böhmen und Deutschland nach Wien bzw. Wiener Neustadt gekommen. Die „Millionenstadt Wien faszinierte ihn“, schreibt Haller, „und jedes Wochenende unternahm er lange Fußmärsche dorthin“.
Am Ende: Trümmer
Gibt es eine Quintessenz aus all diesen Begebenheiten und Anekdoten? Laut Haller wurden die vier im Wien des Jahres 1913 („Hier lagen die Nerven blank“) wesentlich geformt – in dem Sinne, dass sie ihre bereits entwickelten ideologischen Überzeugungen weiter ausprägten und gewissermaßen in einen größeren Zusammenhang zu stellen lernten. Und für alle bedeutete der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der Niedergang der alten Ordnung „einen entscheidenden Wendepunkt“. Die „Ideen, die im Wien von 1913 in ihren Köpfen zu kreisen begonnen hatten, veränderten ein ganzes Jahrhundert“, resümiert Haller lapidar.
Der zwar allgemein bekannte, gleichwohl stets aufs Neue beklemmende Schluss: „Die Säulen ihres Lebenswerks versanken bei allen vier in Trümmern.“ Trümmer, die Abermillionen unter sich begruben.
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