Der 1957 uraufgeführte Broadway-Hit, eine an Shakespeares „Romeo und Julia“ angelehnte romantische Tragödie, ist Bernsteins Neuerfindung des Musicals. Denn während die Vorgänger mit Musical Comedy auf pure Bespaßung abzielten, brachte er in diesem Genre erstmals statt Gute-Laune-Unterhaltung gesellschaftliche Probleme auf die Bühne: Rassismus, Fremdenhass, Vorurteile, Machismo, Konflikte rivalisierender Gangs, die sich wie die Jets und die Sharks mörderische Straßenschlachten liefern ...
Bis dahin war in der Musikrevue unerhört: Dass vor der Pause schon zwei Menschen tot am Boden liegen, und es zur verbotenen Liebe kein Happy End gibt.
Karge Ausstattung
In der Volksoper inszenierte die Intendantin Lotte de Beer mit dem Klassiker ihr „allererstes Musical“ in einem maximal minimalistischen Bühnenbild von Christof Holzer; in der Text-Fassung von Marcel Prawy mit den Englisch gesungenen Songs (Text: Stephen Sondheim). Der neue Musikdirektor, der Brite Ben Glassberg, Jahrgang 1994, dirigierte erstmals ein Musical und hält – Chapeau! – den Mix aus Fast-Oper, Schauspiel, Musik und Tanz zusammen, hält die Balance zwischen unaufgelösten Dissonanzen in den Jazz-Themen der Jets, den aggressiven Latin-Rhythmen der Sharks und hochromantischen Balladen, einer starken Bläsersection und dezent zurückgenommenen Streichern.
Als ausgesprochener Glücksgriff erweist sich ein weiterer Neuling in Wien: Bryan Arias, in Puerto Rico geboren und in New York aufgewachsen.
Seine atemberaubend rasante Choreografie folgt ihrer eigenen Partitur: in gegenläufiger Tanzstilistik neben den Kraftlackeleien der Halbstarken – schärfer und direkter für die urbanen Jets, fließender und ausladender für die Sharks mit ihren puerto-ricanischen Wurzeln.
Ein weiterer Debütant an der Volksoper: Anton Zetterholm. Der Schwede wurde vor 15 Jahren mit der Titelrolle im Disney-Musical „Tarzan“ bekannt und gibt ab 15. März das Phantom der Oper bei den Vereinigten Bühnen Wien im Raimund Theater. Im Part des Jet-Mitglieds Tony, den er schon am Theater Dortmund verkörperte, ist er angemessen, aber nicht überragend besetzt.
Zeitlose Geschichte
Stimmlich allen Ansprüchen gerecht wird hingegen die im von Bernstein immer wieder geforderten Opernstimmfach angesiedelte Jaye Simmons als Maria, berührend in ihrem natürlichen Charme.
Und die gebürtige Brasilianerin Myrthes Monteiro brilliert als ihre Freundin Anita mit dem legendären Song „America“.
Nach der Pause dann ein scharfer Kontrast im grellen Licht: Zum gefühligen Song „Somewhere“ das „New American Dream Home“ aus der Plakatwerbung als Kitsch-Kulisse, Spießbürger-Traum und Illusion vor der Realität – dem Albtraum einer brutalisierten Gesellschaft.
Warum der Show-Evergreen noch 67 Jahre nach seiner Entstehung – auch in der weitgehend nostalgiefreien Neudeutung in der Volksoper – fasziniert?
Weil er das Menschliche in uns anspricht. Und weil die alte Geschichte im New York City der 50er-Jahre zugleich so aktuell ist wie nie zuvor – und die Fremdenfeindlichkeit und Gewalt gegen die „Anderen“ heute noch mehr denn je verbreitet.
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