"Violette" im Schatten der Beauvoir
Paris in den Fünfzigerjahren: In den Cafés von Saint-Germain-des-Près sitzen melancholisch anmutende, meist schwarz gekleidete junge Menschen, die mit Vorliebe über die Bestimmung des Menschen philosophieren. Sie nennen sich Existenzialisten und orientieren sich an den Thesen von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Albert Camus und Jean Genet. In diesem intellektuellen Biotop taucht eines Tages auch die Autorin Violette Leduc auf: eine Mittvierzigerin, die die Entbehrungen zweier Kriege, die Härte eines strengen Internatslebens, eine Scheidung und eine Abtreibung hinter sich hat. Leduc findet im Schreiben ein Ventil für ihre Aggressionen und Ängste. Das Manuskript ihres ersten Buchs, "L’Asphyxie", übergibt sie der von ihr verehrten Simone de Beauvoir, die Leduc nicht nur in die Literatenszene einführt, sondern auch eine lebenslange Freundin wird. Der französische Regisseur Martin Provost ("Séraphine") hat das Leben dieser interessanten Frau verfilmt. "Violette" kommt am kommenden Freitag in unsere Kinos.
KURIER: Wie sind Sie auf Violette Leduc, die doch stets als Außenseiterin der französischen Literaturszene galt, gekommen?
Martin Provost: Ich fühlte mich ihr spontan verbunden, als ich von ihr und über sie las. Ich war schon 50 Jahre alt und hatte mit 18 meine künstlerische Arbeit begonnen. Es dauerte also ganze 32 Jahre, bis ich den ersten großen Erfolg hatte. Bis dahin hatte ich quasi im Schatten gearbeitet, hatte kaum Geld und wenig Anerkennung. Das habe ich gemeinsam mit Violette, die ebenfalls jahrzehntelang als radikale Außenseiterin galt. Auch sie hat viel gemacht, sie hat permanent geschrieben, aber es war nie der Durchbruch. Violette brauchte fast zwanzig Jahre, bis ihr mit ihrer Autobiografie "Die Bastardin" der große Erfolg gelang. Ich will damit sagen: Es reicht nicht, etwas Gutes zu kreieren. Für einen erfolgreichen künstlerischen Weg braucht es Anerkennung. Auch ich bekam diese erst mit "Séraphine".
Mit "Séraphine" haben Sie der Malerin Séraphine Louis, neben Henri Rousseau eine der bedeutendsten französischen Vertreterinnen der naiven Kunst, ein Denkmal gesetzt. Haben Sie ein Faible für die schwierigen, unbequemen Künstlernaturen? In der Tat, das habe ich. Mich interessiert das schwierige Dasein als Künstler. Es gelingt ja nur wenigen, aus dem Dunkel der Bedeutungslosigkeit zu treten und auf sich aufmerksam zu machen. Es ist wirklich schwer, aus der Masse herauszustechen. Man versucht alles, probiert viel aus, ohne zu wissen, wohin die Reise führt. Ein Künstler ist jemand, der immer weiter sucht. Das finde ich äußerst spannend.
Violette Leduc ist bei uns kaum bekannt, war aber in Frankreich mit ihren Schilderungen lesbischer Liebe und ihrer Abtreibung in aller Munde. War sie zu radikal?
Violette war in den Sechzigerjahren in Frankreich wirklich bedeutsam. Ihr Buch "Die Bastardin" war deftig, hatte tolle Verkaufszahlen und großes Medienecho. Sie hat damals den Prix Goncourt mit der Begründung nicht bekommen, dass sie eine skandalöse Frau sei. Aber ihr Erfolg hätte ihn gerechtfertigt. Ja, ein Jahrzehnt lang war sie ein Star. Sie ist dann leider 1972 viel zu früh gestorben. Deshalb ist von dieser barocken, exzentrischen Frau nicht viel geblieben.
Ich empfinde das nicht so. Ich will keine Ähnlichkeiten mit den realen Vorbildern zeigen, sondern einfach meine Sicht der Wahrheit zeigen. Ich habe "Violette" nicht für Violette Leduc, sondern für Emmanuelle Devos, meine Hauptdarstellerin, geschrieben. Ich hatte die Szenen mit ihr genau im Ohr. Ich versuchte sogar, mich in ihren Kopf, in ihr Denken hineinzuversetzen. Ich weiß, das klingt manisch, oder? Aber anders kommst du nicht weiter.
Mindestens genauso gut wie Emmanuelle Devos ist Sandrine Kiberlain als Simone de Beauvoir. War es schwer, diese zu besetzen?
Das kann man wohl sagen. Beauvoir ist eine Ikone in Frankreich und man muss erst einmal den Mut haben, sie als ganz normale Frau mit Kummer und Zweifeln zu spielen. Sandrine hatte diese Kühnheit, zum Glück.
Sie kannten einander fast ein Leben lang: Beim Philosophiestudium an der Pariser Sorbonne kreuzten sich 1929 die Wege von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Erst 1980 trennte sie sein Tod. Das Paar war eines der ungewöhnlichsten und radikalsten seiner Zeit: Gleich zu Beginn ihrer Beziehung legten beide fest, dass sie nie heiraten würden – das sei "bourgeoise Moral". Sie wohnten niemals zusammen, selbst in Hotels buchten sie verschiedene Zimmer. Materieller Besitz bedeutete ihnen nichts. Stattdessen schlossen sie einen "Liebespakt": Sie wollten offen sein für andere Erfahrungen, aber dennoch immer füreinander die Nummer eins bleiben. Freiheit und Verbindlichkeit sollten Hand in Hand gehen.
Eine Umdeutung der Geschlechterbeziehung, bei der sich Sartre, der nur 1,58 Meter große, aber gnadenlos wortgewandte Künstler und Verführer leichter tat als Simone de Beauvoir. All ihre einschlägigen Erfahrungen mit Sartre haben wohl auch beigetragen zu ihrer grandiosen Analyse "Das andere Geschlecht", einem fundamentalen Werk des Feminismus.
Sartre und Beauvoir waren Existenzialisten – Ungewissheit und Eigenverantwortung waren ihre wesentlichen Themen. Nichts ist vorherbestimmt, der Mensch bestimmt seine Existenz selbst und versteht sich im eigenen Erleben. Sartres philosophisches Hauptwerk, "Das Sein und das Nichts", galt als theoretisches Fundament des Existenzialismus. Der zweite große Vertreter der Existenzialismus-Schule war Albert Camus. In seinem 1942 erschienenen Buch "Der Mythos des Sisyphos" entwickelte Camus die Philosophie des Absurden. Zum Freundeskreis, der sich regelmäßig im Café de Flore traf, gehörten auch Jean Genet, Dora Maar und Pablo Picasso sowie Raymond Queneau.
Für ihre Generation und die nachfolgenden 68er waren die anti-bourgeoisen Intellektuellen Vorreiter und Vordenker, vor allem auch durch ihr politisches Engagement für Pazifismus und Humanismus.
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