Donnerstagabend startet das 61. Wiener Filmfestival mit Gábor Reisz’ drittem Spielfilm „Explanation for Everything“. Bereits auf dem Filmfestival in Venedig wurde die mit satirischem Unterton leichtfüßig erzählte Coming-of-Age-Geschichte in der Orizzonti-Reihe mit dem Preis für den besten Film ausgezeichnet. Im Mittelpunkt steht der 18-jährige Schüler Abel, der, anstatt für seine Schaulabschlussprüfung zu lernen, lieber von seiner besten Freundin träumt, in die er aussichtslos verliebt ist. Sein ehrgeiziger Architekten-Vater prüft den Sohn beim Abendessen prominente Politiker-Namen ab, doch Abel sprüht nicht gerade vor Wissen. Bei der Geschichtsprüfung schließlich bringt er den Mund gar nicht auf. Um das Eis zu brechen, fragt ihn sein liberaler Lehrer, warum denn die Anstecknadel mit den ungarischen Nationalfarben an seinem Revers stecke?
Tatsächlich hat Abel nur vergessen, dass Nationalsymbol nach den Feierlichkeiten des Nationalfeiertages am 15. März abzunehmen. Aber seinem erbosten Vater erzählt er, sein „linker“ Lehrer habe ihn durchfallen lassen, weil Abels Vater ein Anhänger von Viktor Orbán sei. Durch Zufall wird das Ereignis von konservativen Medien aufgegriffen und zum nationalen Skandal stilisiert.
Bipolares Ungarn
Den Einfall zu dieser Geschichte hatte Gábor Reisz, als die ungarische Regierung 2020 beschloss, das Bildungssystem zu reformieren und der Budapester Universität für Theater- und Filmkunst die Autonomie zu entziehen. Studentenproteste waren die Folge, denen sich auch Reisz anschloss: „Ich bin ein sehr stolzer Absolvent dieser Universität, und die Reform der Regierung war wirklich schlimm“, erläutert er unbeirrt, während im Hintergrund andere Fluggäste durchs Bild marschieren: „Doch das war nur Teil des Problems: Die regierungsnahen Medien begannen, alle Protestierenden als Linke und Kommunisten und Anarchisten abzustempeln. Ich fand das sehr traurig. Diese Situation war die Inspiration zu meinem Film: Über ein bipolares Ungarn zu sprechen, in dem jede Frage des Lebensbereichs in politische Lager, in Schwarz und Weiß, oder, wie in diesem Fall, links und rechts eingeteilt wird. Meiner Ansicht nach ist das Leben komplizierter.“
Mit 2020 änderte sich auch das nationale Filmförderungssystem, das bis dahin zwar „auch nicht perfekt“ war, aber trotzdem „wirklich gut funktionierte“ und Prestigefilme wie „Son of Saul“ hervorbrachte. Danach hatten es gesellschaftspolitisch kritische Stimmen mit Unterstützung schwer. Reisz selbst wurde mit zwei Filmprojekten abgewiesen, bei der Finanzierung von „Explanation of Everything“ suchte er nicht mehr um Geld an: „Mit meinem Thema, das sich so stark mit Gesellschaft und Politik befasst, wäre das unmöglich gewesen.“
Auch für Marvel-Fans
Zu den großen Stärken von Reisz’ gewitzt erzähltem Schuldrama zählt der Umstand, dass keine der Figuren moralisch verurteilt wird. Sowohl der gestresste konservative Vater, als auch der nicht minder gestresste Lehrer werden in ihren Anliegen und Irrläufen ernst genommen: „Diese Ausgewogenheit erschien mir als einzig mögliche Gangart, um über unsere Gesellschaft zu sprechen: Indem man versucht, beide Seiten zu verstehen.“
Gefilmt mit der Handkamera, atmet das Porträt des verwirrten Schülers („Im Alter von 18 war ich auch komplett durcheinander“) den frischen Atem einer Nouvelle Vague: „Einer meiner Lieblingsfilme ist ,Sie küssten und sie schlugen ihn“ von Truffaut. Auch in meinem Film hat Abel schlimme Erfahrungen gemacht – und kann sich am Ende trotzdem frei und glücklich fühlen.“
In Ungarn ist „Explanation of Everything“ bereits höchst erfolgreich angelaufen. Kritik und Publikum führen angeregte Diskussion darüber, wie die verfeindeten, gesellschaftlichen Lager wieder ins Gespräch kommen könnten. Und was Gábor Reisz ganz besonders freut: „Sogar Leute, die üblicherweise Fans von Marvel-Movies sind, konnten mit meinem Film etwas anfangen.“
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