Viennale-Eröffnungsfilm: Bei Nicht Genügend ... Aufstehen!

Ein ungarischer Schüler fällt bei der Abschlussprüfung durch und erregt nationale Aufmerksamkeit: „Explanation for Everything“
Das 61. Wiener Filmfestival eröffnet mit der ungarischen Sozialsatire „Explanation of Everything“ von Gábor Reisz, in der ein Schüler bei der Geschichtsprüfung durchfällt

Gábor Reisz befindet sich auf der Durchreise. Gerade ist sein Flugzeug in Wien-Schwechat gelandet, aber bleiben kann er leider nicht. In Kürze geht es weiter nach Chicago, wo sein neuer Film „Explanation for Everything“ („Magyarázat mindenre“) auf dem dortigen Filmfestival gezeigt wird: „Deswegen kann ich auch nicht zur Viennale kommen, was mir sehr leidtut“, sagt der ungarische Filmregisseur. Er hat es sich in einer Nische des Flughafens gemütlich gemacht und blickt beim morgendlichen Zoom-Interview mit dem KURIER munter in seinen Computer: „Chicago war früher dran, sonst wäre ich gerne dabei gewesen, wenn mein Film zur Viennale-Eröffnung läuft. Ich bin sehr stolz darauf.“

Donnerstagabend startet das 61. Wiener Filmfestival mit Gábor Reisz’ drittem Spielfilm „Explanation for Everything“. Bereits auf dem Filmfestival in Venedig wurde die mit satirischem Unterton leichtfüßig erzählte Coming-of-Age-Geschichte in der Orizzonti-Reihe mit dem Preis für den besten Film ausgezeichnet. Im Mittelpunkt steht der 18-jährige Schüler Abel, der, anstatt für seine Schaulabschlussprüfung zu lernen, lieber von seiner besten Freundin träumt, in die er aussichtslos verliebt ist. Sein ehrgeiziger Architekten-Vater prüft den Sohn beim Abendessen prominente Politiker-Namen ab, doch Abel sprüht nicht gerade vor Wissen. Bei der Geschichtsprüfung schließlich bringt er den Mund gar nicht auf. Um das Eis zu brechen, fragt ihn sein liberaler Lehrer, warum denn die Anstecknadel mit den ungarischen Nationalfarben an seinem Revers stecke?

Viennale-Eröffnungsfilm: Bei Nicht Genügend ... Aufstehen!

Stolz, dass sein Film die Viennale eröffnet: Der ungarische Regisseur Gábor Reisz

Tatsächlich hat Abel nur vergessen, dass Nationalsymbol nach den Feierlichkeiten des Nationalfeiertages am 15. März abzunehmen. Aber seinem erbosten Vater erzählt er, sein „linker“ Lehrer habe ihn durchfallen lassen, weil Abels Vater ein Anhänger von Viktor Orbán sei. Durch Zufall wird das Ereignis von konservativen Medien aufgegriffen und zum nationalen Skandal stilisiert.

Bipolares Ungarn

Den Einfall zu dieser Geschichte hatte Gábor Reisz, als die ungarische Regierung 2020 beschloss, das Bildungssystem zu reformieren und der Budapester Universität für Theater- und Filmkunst die Autonomie zu entziehen. Studentenproteste waren die Folge, denen sich auch Reisz anschloss: „Ich bin ein sehr stolzer Absolvent dieser Universität, und die Reform der Regierung war wirklich schlimm“, erläutert er unbeirrt, während im Hintergrund andere Fluggäste durchs Bild marschieren: „Doch das war nur Teil des Problems: Die regierungsnahen Medien begannen, alle Protestierenden als Linke und Kommunisten und Anarchisten abzustempeln. Ich fand das sehr traurig. Diese Situation war die Inspiration zu meinem Film: Über ein bipolares Ungarn zu sprechen, in dem jede Frage des Lebensbereichs in politische Lager, in Schwarz und Weiß, oder, wie in diesem Fall, links und rechts eingeteilt wird. Meiner Ansicht nach ist das Leben komplizierter.“

Viennale-Eröffnungsfilm: Bei Nicht Genügend ... Aufstehen!

Tut sich beim Lernen von Geschichte schwer: Gáspár Adonyi-Walsh als Schüler Abel

Mit 2020 änderte sich auch das nationale Filmförderungssystem, das bis dahin zwar „auch nicht perfekt“ war, aber trotzdem „wirklich gut funktionierte“ und Prestigefilme wie „Son of Saul“ hervorbrachte. Danach hatten es gesellschaftspolitisch kritische Stimmen mit Unterstützung schwer. Reisz selbst wurde mit zwei Filmprojekten abgewiesen, bei der Finanzierung von „Explanation of Everything“ suchte er nicht mehr um Geld an: „Mit meinem Thema, das sich so stark mit Gesellschaft und Politik befasst, wäre das unmöglich gewesen.“

Auch für Marvel-Fans

Zu den großen Stärken von Reisz’ gewitzt erzähltem Schuldrama zählt der Umstand, dass keine der Figuren moralisch verurteilt wird. Sowohl der gestresste konservative Vater, als auch der nicht minder gestresste Lehrer werden in ihren Anliegen und Irrläufen ernst genommen: „Diese Ausgewogenheit erschien mir als einzig mögliche Gangart, um über unsere Gesellschaft zu sprechen: Indem man versucht, beide Seiten zu verstehen.“

Gefilmt mit der Handkamera, atmet das Porträt des verwirrten Schülers („Im Alter von 18 war ich auch komplett durcheinander“) den frischen Atem einer Nouvelle Vague: „Einer meiner Lieblingsfilme ist ,Sie küssten und sie schlugen ihn“ von Truffaut. Auch in meinem Film hat Abel schlimme Erfahrungen gemacht – und kann sich am Ende trotzdem frei und glücklich fühlen.“

Viennale-Eröffnungsfilm: Bei Nicht Genügend ... Aufstehen!

Ein Hauch von Nouvelle Vague: "Explanation for Everything"

In Ungarn ist „Explanation of Everything“ bereits höchst erfolgreich angelaufen. Kritik und Publikum führen angeregte Diskussion darüber, wie die verfeindeten, gesellschaftlichen Lager wieder ins Gespräch kommen könnten. Und was Gábor Reisz ganz besonders freut: „Sogar Leute, die üblicherweise Fans von Marvel-Movies sind, konnten mit meinem Film etwas anfangen.“

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