Mit seinen provokanten Blicken in die österreichische Seele sorgte Seidl schon oft für Irritationen. Auch in „Rimini“ verhalten sich die Menschen nicht immer so, wie man sich das von braven Bürger und Bürgerinnen vorstellt. Doch diesmal überrascht Seidl vor allem mit der Zärtlichkeit, die er für seine Protagonisten und Protagonistinnen bereithält.
Im Zentrum steht Richie Bravo, ein abgehalfterter Schlagersänger, dessen erfolgreiche Zeit schon länger hinter ihm liegt. Als Reserve-Elvis mit Zug zur Flasche trägt er Cowboy-Boots und einen Mantel aus Seehundfell. Wenn der Bauch zu groß wird, schnallt er ein Korsett an und legt einen glänzenden Anzug darüber. In dem italienischen Küstenort Rimini besitzt Richie eine abgeschabte Villa, die vom Ruhm vergangener Jahre zeugt. Mittlerweile ist er allerdings derartig knapp bei Kasse, dass er sie an Fans vermieten muss.
Ursprünglich hatte Seidl unter dem Arbeitstitel „Böse Spiele“ zwei Geschichte geplant, die von zwei Brüdern – Richie und Ewald – erzählen sollten. Aus dieser Idee entstanden nun zwei Filme: Der erste handelt von Richie Bravo, kongenial verkörpert von dem Schauspieler und Sänger Michael Thomas; der zweite von Richies jüngerem Bruder, gespielt von Georg Friedrich. In „Rimini“ treffen die Männer einander nur kurz anlässlich des Todes ihrer Mutter wieder. Ihr dementer Vater – Peter-Michael Rehberg – wurde ins Altersheim übersiedelt: Allein dessen Gesichtsausdruck zu der Melodie von Schuberts Winterreise, „Fremd bin ich eingezogen“, ist herzzerreißend und wird zum berührenden Abschied von dem mittlerweile verstorbenen Schauspieler.
Rimini ist bekannt für sein pulsierendes Nachtleben und seine sommerliche Partymeile, doch Seidl zeigt ein völlig anderes Bild: Verlassen und verschneit, mit schlafenden Obdachlosen am Gehsteig, entfaltet Rimini im frostigen Nebel eine trostlose Schönheit.
In tristen Hotelhallen, in denen Touristenbusse ihr schütteres Pensionistenpublikum ausladen, bricht Richie älteren Damen mit Schnulzen das Herz. Nebenher bedient er sein weibliches Klientel mit sexuellen Diensten und kassiert dafür Geld ein.
Trotz seines schmierigen Auftretens, wird Michael Thomas in seiner Rolle als Richie Bravo nie gänzlich unsympathisch: Mit viel Schmelz in der Stimme singt er seine kitschverklebten Schlagermelodien und lässt auch noch in den banalsten Glücksversprechen („Emilia, du hast mein Herz gestohlen“) so etwas wie Wahrhaftigkeit aufflackern.
Liebevoll folgt Seidl seinem Anti-Helden durch die Schlaglöcher seiner versinkenden Karriere und konfrontiert dessen seelenvolle Musikauftritte als „Schlagerstar“ mit der winterlichen Kälte seiner Lebensrealität. Den Auftritt seiner Tochter, die plötzlich auftaucht und Geld fordert, hätte es gar nicht unbedingt gebraucht, um das schillernde Porträt eines Mannes zwischen Glanz und Elend zu zeichnen.
Von einer komplizierten Eltern-Kindbeziehung erzählt auch die französisch-schweizerische Regisseurin Ursula Meier in ihrem Drama „Die Linie“. Diesmal ist es allerdings eine Mutter, die mit ihrer Tochter konfrontiert wird – und die ist gewalttätig.
Meistens sieht man im Kino Männer, die gewalttätig agieren, doch hier ist es eine junge Frau, die ihre Mutter fast k. o. schlägt und dann mit einem Kontaktverbot belegt wird. Valeria Bruni Tedeschi spielt die verletzte Mutter in einer für sie fast schon allzu typischen Rolle zwischen Selbstmitleid und Hysterie. Freilich hat sie auch immer einen gewissen Hang zur Komik – was Meiers Wettbewerbsbeitrag allerdings aus der Balance bringt.
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