Groß, größer, Inaugurazione – die Mailänder Saisoneröffnung, traditionellerweise am 7. Dezember, dem Tag des Stadtheiligen Sant’Ambrogio, abgehalten, ist ja seit jeher das wichtigste Opernspektakel der Welt. In diesem Jahr wurden bis zu 3.000 Euro für eine Karte bezahlt. Apropos Superlativ: Den meisten Applaus erhielt gleich zu Beginn der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella nach dem (und für das?) Betreten seiner Loge. Minutenlang währten die Ovationen, ehe Riccardo Chailly die Hymne „Fratelli d’Italia“ dirigieren konnte. So langen Applaus gab es nicht einmal nach Netrebkos „Vissi d’arte“.
„Tosca“, auch eine Art Nationalhymne, war jedenfalls das richtige Werk für die größte Operndiva. Allerdings kann man über die Fassung geteilter Meinung sein. Chailly, der sich in seiner Musikdirektoren-Amtszeit in Mailand der Puccini-Forschung verschrieben hat, setzte auf die Version der römischen Uraufführung aus dem Jahr 1900. Diese hat mehr Glasur als die näher am Verismo liegende bekannte.
Ein Zuckerwatte-Puccini.
Vielleicht ist diese Fassung auch einer der Gründe dafür, warum sich Netrebko nach ihrer großen Arie kurz versang, mit einem falschen Text einsetzte, sich jedoch sofort mit Luca Salsi, dem Scarpia, über das Mini-Chaos hinwegrettete. Improvisation war ja immer schon eine der größten Stärken der Netrebko.
Und der Gesang als Floria Tosca, selbst eine große Sängerin? Nach Netrebkos Rollendebüt an der New Yorker Metropolitan Opera hatte der Autor dieser Zeilen seine Kritik mit dem Titel „Toscanna“ überschrieben, der insinuieren sollte, dass die Sopranistin wohl die einzig wahre Tosca der kommenden Jahre sein werde. Das könnte durchaus so sein, allerdings ist Netrebko selbst ihre größte Messlatte. Und Mailand liegt diesbezüglich hinter New York, nicht nur zeitlich.
Netrebko brauchte eine gewisse Zeit, vielleicht war sie auch eine Spur nervöser als sonst, um ihre Stimme zum Erblühen zu bringen, wie nur die ihre erblühen kann. Ihre Dramatik war schon besser, ihre Präzision ebenso, auch die Differenzierung. Im zweiten Akt dann: Netrebko, wie sie leibt und lebt. Mit traumhaft schönem dunklen Timbre, exemplarischer Phrasierung, mühelos wirkenden Registerübergängen. Im dritten: darstellerisch intensiv, mitreißend, stimmlich aber fast schon etwas müde wirkend. Entweder hat sie im Vorfeld zu viel gearbeitet, oder zu wenig. Sie, aber nur sie, kann das besser.
In New York hatte sie an der Seite ihres Mannes Yusif Eyvazov debütiert (er wird, ist ja auch einfacher so, den Cavaradossi ebenso im kommenden Sommer in Salzburg singen). Diesmal stand ein familiärer Fremd-Tenor an ihrer Seite, Francesco Meli, den sie unter anderem von der Salzburger „Aida“ kennt. Sein „Recondita armonia“ war mächtig, kraftvoll, ausdrucksstark, sein „E lucevan le stelle“ gutes Mittelmaß. Meli verfügt über eine klare Höhe, famose Technik, allerdings nicht sonderlich viele Farben in seinem schlanken Tenor. Insgesamt ist er dennoch ein höchst professioneller, seriöser Sänger mit viel Italianità, wie es nicht allzu viele davon gibt.
Ebenso gut besetzt: Luca Salsi als Baron Scarpia mit noblem Bariton, allerdings mehr Dämonie und Kraft in der Darstellung als in der Stimme. Er ist der Protagonist mit dem geringsten Nachhall, dem kleinsten ökologischen Fußabdruck dieses Abends, was ja auch sympathisch ist.
Riccardo Chailly setzte auf der Langstrecke zu sehr auf Power, die musikalische Dramaturgie könnte ausgefeilter sein. Allerdings klingt das Orchester phänomenal und facettenreich, einige Soli waren atemberaubend. Ein echter Höhenflug. Aber wo, wenn nicht in Mailand, sollte „Tosca“ so klingen?
Szenisch jedoch ist eine Allerwelts-„Tosca“ zu sehen, aufgemotzt durch üppigste Ausstattung – ein weihnachtliches Schaufenster mit Pomp. Regisseur Davide Livermore und Giò Forma (Bühne) bauten ein römisches Imperium in die Scala, die Kirche Sant’Andrea della Valle, deren Elemente sich ständig drehen, heben und senken, den Palazzo Farnese in unsäglicher Üppigkeit, das Castello Sant’Angelo mit einem Mega-Engelsflügel. Dazwischen marschiert der halbe Vatikan in vollem Ornat auf und lenkt von der Musik ab. Hier gilt’s den Augen.
Interpretatorisch sieht diese „Tosca“ aus wie die meisten anderen, mit zwei Ausnahmen: Floria Tosca ist eine scheue, mit Skrupeln behaftete Mörderin. Und sie erlebt ihre Taten – die Erdolchung Scarpias und den eigenen Sprung von der Engelsburg – als Vision, dargestellt von einer Doppelgängerin. Schön der Moment, in dem nach Scarpias Tod die Figuren auf den Gemälden in seinem Palast befreit zu leben beginnen (all das filmisch umgesetzt). Eine professionelle, belanglose Regie.
Für den österreichischen Intendanten Pereira die letzte Großtat in Mailand, ehe er nach Florenz übersiedelt. Er hat geradezu perfekt an die Scala gepasst, den an diesem Ort nötigen Starbetrieb gepflegt, das Repertoire raffiniert erweitert (unter anderem durch Richard-Strauss-Produktionen mit Franz Welser-Möst), die große italienische Oper auf hohem Niveau realisiert, aber auch Neue Musik zu etablieren versucht, etwa durch die Uraufführung von Kurtágs „Fin de partie“. Seine Amtszeit wird wohl noch nachklingen wie Netrebkos „Mario, Mario“-Rufe.
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