"Tomboy": Mädchen auf Identitätssuche
In einem Zimmer im 1. Stock des Pariser Grand Hotel Intercontinental sitzt Céline Sciamma vor einer Tasse Tee und gibt Interviews. Die junge französische Regisseurin, Typ Streberin aus dem Philosophie-Seminar, spricht über ihren zweiten Kinofilm "Tomboy". Wie schon in ihrem ersten Film "Wasserlilien" nimmt sich Sciamma hier des Themas der Identitätssuche heranwachsender Kinder an. Ein zehnjähriges Mädchen, Laure, will gar kein Mädchen sein. Sie nennt sich Mikael, kleidet sich wie ein Bub, redet so und benimmt sich auch so: Spielt lieber Fußball und balgt herum, als dass sie sich mit Mode und Schminken beschäftigt. Natürlich fliegt ihr Schwindel bald auf und die anderen Kinder finden sie lächerlich. Doch bis dahin genießt Mikael alias Laure in vollen Zügen die Freiheit des Andersseins. "Tomboy" läuft derzeit im Wiener Topkino.
KURIER: Sie spielen mit den Geschlechtern, lassen den Zuseher anfangs auch bewusst im Unklaren darüber, ob Laure ein Mädchen oder ein Bub ist.
Céline Sciamma: Ja, die ersten zehn Minuten ist das nicht klar. Ich wollte, dass die Zuschauer sich wie das Kind fühlen, das nicht weiß, wo und wie es sich einordnen soll. Das seine Identität noch nicht gefunden hat und in aller Unschuld seine doppelte Rolle auslebt. Für Laure ist das alles ein Spiel, sie ist weit entfernt von Kalkül und sexuellem Empfinden. Denken Sie zurück: Die Kindheit ist doch eine Zeit voller Unschuld, aber auch voller Sinnlichkeit. Kinder haben alle Sinne offen, nehmen alles auf, was um sie herum passiert und reagieren darauf.
"Tomboy" ist nie dramatisch, sondern kommt leichtfüßig und stellenweise komisch daher. Ein Kind beziehungsweise ein Jugendlicher würde aber seine innere Zerrissenheit nicht komisch finden, oder?
Nun, ich wollte eben zeigen, dass es erst einmal schön ist, Kind zu sein. Dass es Spaß macht, sich ausleben zu dürfen und viele Freiheiten zu haben, ohne dafür abgestraft zu werden. Natürlich wirkt es komisch, wenn Laure sich einen Penis aus Plastilin formt und ihn sich in die Badehose stopft, damit sie beim Schwimmen mit den Jungs nicht auffliegt. Diese Leichtigkeit im Umgang mit seinem Geschlecht verfliegt mit dem Beginn der Adoleszenz.
Ein Bub zu sein ist in Ihrem Film sehr positiv besetzt, oder täuscht der Eindruck?
Ja, es ist für Kinder in dem Alter toll, ein Bub zu sein: Man gehört zu den Starken, zu denen, die in der Gruppe das Sagen haben. So stellen die Kids es sich zumindest vor. Diese schönen Wünsche und Vorstellungen werden dann während des Erwachsenwerdens von der Realität überholt.
Wie viel Céline steckt in Laure?
Schon ein schönes Stück. Ich bin auch wahnsinnig gern geklettert und gerannt, war immer draußen in der Natur und habe viel lieber mit Buben gespielt als mit Mädchen. Das hat sich aber gelegt, als ich dann größer wurde. Ich habe mein Frausein akzeptiert. Wohl oder übel.
Hat "Tomboy" einen psychologischen Hintergrund? Wollten Sie eine Art Gender Study erstellen?
Nein, daran habe ich nie gedacht. Ich wollte einfach eine Geschichte erzählen, die mir gefällt. Sie ist mir eingefallen, ich habe sie in drei Wochen niedergeschrieben und letztendlich in drei Wochen verfilmt. Es war ein spontaner Schnellschuss.
INFO: "Tomboy" läuft derzeit im Wiener Topkino (außer am Mittwoch, 16. Mai)
Stichwort: Tomboy
Pubertät
Als "Tomboy" werden Mädchen bezeichnet, die sich entsprechend der gängigen Geschlechterrolle von Burschen verhalten: typische Kleidung und Frisuren, z.B. Interesse an Fußball oder Naturwissenschaften und der Versuch, eher mit Burschen Freundschaften zu schließen. Das Phänomen tritt vor allem in der Pubertät auf und wird von den Gender Studies mit Interesse beobachtet, da es eine Aufweichung eines klar trennenden Geschlechterkonzepts darstellt.
Stil
Der Begriff kann aber auch auf erwachsene Frauen angewendet werden. Daraus hervorgehend gibt es auch den "Tomboy"-Kleidungsstil, der sich vor allem in kurzen Haaren und maskuliner Kleidung niederschlägt.
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