Tödlicher Auftritt: Vor einem halben Jahrhundert endete eine Utopie
Während eines Konzerts der Rolling Stones am 6. Dezember 1969 geschieht im kalifornischen Altamont das blutige, aber eigentlich doch logische Ende einer Utopie.
Mick Jagger hat in den vergangenen Wochen die Arroganz als liebstes Spielzeug entdeckt. Er genießt es, angestarrt und nicht mehr angekreischt zu werden, als 26-jähriger Befehlshaber über sein Publikum im Bad der Bewunderung zu planschen.
Jetzt ist alles anders. Am Abend des 6. Dezember 1969 taucht er auf der Festival-Bühne von Altamont in die Hilflosigkeit ab.
„Sit down“, wiederholt er. Weil ihm nichts Besseres einfällt. Die Macht ist weg. Hinsetzen. Als wäre damit der ganze Spuk vorbei. Das Desaster, welches sich in dieser gottverlassenen Gegend, 76 Kilometer östlich von San Francisco, längst abgezeichnet hat, taumelt seinem Höhepunkt entgegen.
Die Stones flüchten in eine verschleppte Version von „Under My Thumb“. Zwecklos. Panik teilt die Masse und öffnet schemenhaft den Blick auf eine Meute von Hell’s Angels, die sich auf den Schwarzen im leuchtend grünen Anzug stürzt. Alan Passaro sticht mehrmals auf Meredith Hunter ein. Der 18-Jährige ist bereits tot, als er in den Helikopter gelegt wird.
Tatsächlich, es ist alles anders. Blutig gehen die Sechziger zu Ende. Hunter habe mit einer Pistole herumgefuchtelt, Passaro in Notwehr gehandelt. Damit wird später das Gericht seinen Freispruch begründen.
Der Tod passt nicht in eine Gegenbewegung, die nach Neuorientierung der Gesellschaft sucht. Ein Schlussakkord der Gewalt auf der Autorennbahn von Altamont wird unverrückbar düsteres Kapitel in der Geschichte der Love-Generation. Interpretiert das Ende der Sixties nicht als temporären Abschnitt, sondern als Ende eines Lebensgefühls.
„Wir werden ein Beispiel geben, wie man sich auf einer Großveranstaltung zu verhalten hat. Das Konzert ist nur ein Vorwand, die Leute wollen Spaß haben.“
von Mick Jagger
auf einer Pressekonferenz vor dem Festival in Altamont.
Tabubruch
Musik ist dabei nicht nur Begleitung, sondern hat zentrale Bedeutung. Göttergleich stehen ihre Überbringer auf einem Sockel. Unantastbar. Doch in Altamont geschieht der Frevel. Jagger wird unmittelbar nach seiner Ankunft von einem Mann mit den Worten „Ich hasse dich“ abgewatscht, Jefferson-Airplane-Sänger Marty Balin von einem Hell’s Angel zwei Mal bewusstlos geschlagen.
Im Jahr 1969 pflegen die Rolling Stones ihren skandalträchtigen Ruf, begründen aber auch das Selbstbewusstsein, per Eigendefinition die „größte Rock’n’Roll-Band der Welt“ zu sein. Brian Jones ertrank im Sommer in seinem Pool, und das Album „Let It Bleed“ erscheint wie ein zynischer Zufall am 5. Dezember – einen Tag vor Altamont.
Engländer, die wegen unverschämter Preise der Konzerttickets (8,50 $ im Madison Square Garden) zu einem Gratis-Festival gedrängt werden, sorgen für den Soundtrack zum Platzen eines amerikanischen Traums, mit dem sie nichts anzufangen wissen. Keith Richards schreibt in seiner Biografie „Life“: „Sehr mittelalterlich, Typen mit Glöckchen am Wams, die ,Haschisch, Peyote‘ sangen. Der Höhepunkt des Hippie-Traums und seines zerstörerischen Potenzials. In Altamont kam die dunkle Seite der menschlichen Natur zum Vorschein.“
Beeindruckend bedrückend liefern die Brüder David und Albert Maysles im Film „Gimme Shelter“ – geplant als Dokumentation der Stones-Tour ’69 – den Beweis, dass der Weg vom Triumph in die Katastrophe ein logischer war. Zu explosiv ist die angerührte Mischung:
Unerschütterlich ist die Überzeugung, man könne Woodstock vier Monate danach kopieren, auf der anderen Seite in Kalifornien sogar übertrumpfen. Weiters im Programm: Ike & Tina Turner, Grateful Dead, Jefferson Airplane, die Flying Burrito Brothers, sowie Crosby, Stills, Nash &Young.
„Dieser Jagger hat uns verarscht, wir haben uns für diesen Idioten total zum Narren gemacht.“
von Sonny Barger
Gründungsmitglied der Hell’s Angels, meldet sich im Film „Gimme Shelter“ telefonisch zu Wort.
„Ursprünglich hätte Altamont überhaupt nicht in Altamont stattfinden sollen. Wäre das dickköpfige, strunzdumme San Francisco Council nicht ganz so bescheuert gewesen, wäre es anders gekommen. Wir wollten in San Franciscos Golden Gate Park spielen. Die Bühne stand sogar schon...“
von Keith Richards
erinnert sich auf seine Art in der Autobiografie „Life“
Drogenexzess
Unbezwingbar bleibt der Optimismus, in nur zwei Tagen ein Gelände zu finden, auf dem sich 300.000 Individuen zu einem friedlichen Haufen vereinen lassen. Der Notausgang führt zum vergammelten, in der Leblosigkeit verborgenen Altamont Speedway. Böse ist die Vorahnung von Tour-Manager Sam Cutler: „Es sah aus, als wäre eine Atombombe auf San Francisco abgeworfen worden, und das hier wären die Überlebenden. Es sah aus wie das Ende der Welt.“
Unumstößlich ist die Ablehnung jeder Uniform, die an staatliche Ordnung erinnert. Auf Empfehlung des Grateful-Dead-Managers sollen die Hell’s Angels den geregelten Ablauf sichern. Gegenleistung: Bier im Wert von 500 Dollar. Auffassungsunterschiede bleiben nicht aus. Die Rockergang prügelt mit Billard-Queues auf alle ein, die ihren Motorrädern zu nahe kommen.
„Niemand wollte die Verantwortung für das übernehmen, was in Altamont geschah. Nicht die Hell’s Angels, nicht die Menschen im Publikum, nicht die Rolling Stones. Offensichtlich kam jeder, der dort war, zu dem Schluss, dass das Geschehene nichts mit ihm zu tun hätte.“
von Tour-Fotograf Ethan. A. Russell
in seinem Buch „Let It Bleed“.
Unbegreiflich, mit welcher Naivität jeder Gedanke an die Existenz menschlicher Unzurechnungsfähigkeit ausgeblendet wird. Unterschätzt ist die Tatsache, dass hemmungsloser Konsum meist minderwertiger Drogen längst mit dem grenzenlosen Drang nach Freiheit verwechselt wird.
Was ein halbes Jahrhundert später davon übrig bleibt?
Verdammt verrückt
Zunächst die Verwunderung über ein Sittenbild und dessen Verarbeitung. Jo Bergman, damals Begleiterin der Rolling Stones, zieht den vereinfachenden Schluss: „Es waren die Sixties, verdammt noch mal. Es passierten verrückte Dinge, die Leute taten verrückte Dinge. Und Fragen stellte man erst hinterher.“
In Altamont endet eine Utopie, die Flucht aus der Realität. Ob danach tatsächlich alles besser wurde, überlebt als offene Frage.
„Jeder Auftritt begann mit Verspätung. Bei jedem verdammten Auftritt spannte er die Veranstalter und das Publikum auf die Folter. Welches Recht maßt sich dieser Gott an, so auf unser Land niederzufahren? Aber wissen Sie, was für mich wirklich tragisch ist? Dass dieser Mistkerl eine tolle Show hinlegt.“
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