"The Prom“ mit Meryl Streep: Frohbotschaft mit Gesang und Tanz
Eine alte Weisheit der Filmgeschichte lautet: Sind die Zeiten schlecht, feiert das Musical seine Hochblüte.
Je deprimierender die Wirklichkeit, desto größer die Sehnsucht nach Utopie. Würde man im echten Leben am liebsten in Tränen ausbrechen – im Musical brechen die Menschen in Gesang aus. Sie sprechen nicht, sie singen. Sie gehen nicht, sie tanzen.
Wo kann man plötzlicheinen Regenschirm aufspannen und beschwingt über den Gehsteig steppen, ohne dass einem sofort der Vogel gezeigt wird?
Ganz recht, nur im Musical. Dort ist Tanzen nicht nur erlaubt, sondern auch ansteckend. Es dauert nicht lange, und alle tanzen mit. Der Verkehr steht still, der Alltag wird unterbrochen. Man nennt das Showstopper: Stinknormale Straßen verwandeln sich in bunte Bühnen, auf denen singende und tanzende Menschen ihre Sehnsucht nach Liebe und Glück hinaus schmettern.
Denn das Musical verkündet nicht nur reinen Eskapismus: Es glaubt auch an die Möglichkeit einer besseren Welt.
Depression
In Zeiten der Pandemie ist es zur Depression nicht weit. Da kommt ein Musical wie „The Prom“ (ab Freitag auf Netflix abrufbar, Kinostart geplant), das an die klassischen Musical-Highlights aus Hollywood anschließt, aber mit beiden Beinen im Jahr 2020 steht, wie gerufen. Kein Wunder, dass bei kaum einer Kritik der Satz fehlt: „In dunklen Zeiten brauchen wir einen Film wie diesen mehr denn je.“
Aber auch ohne pandemische Bedingungen würde ein musikalischer Hingucker wie „The Prom“ das Publikum locker für sich gewinnen. Gespickt mit Stars wie Meryl Streep und Nicole Kidman, bestückt mit temperamentvollen Songs und aufgepeppt mit lässigen Tanzeinlagen, brummt das sinnenfreudige Singspiel mit seiner Frohbotschaft von Toleranz und Versöhnung. „The Prom“ ist witzig und schlagfertig, gefühlvoll und tränenreich.
Regie führte Ryan Murphy, der (mit Serien wie „Glee“) als einer der mächtigsten Männer der TV-Welt gilt und einen sensationellen Projektentwicklungsdeal mit Netflix abgeschlossen hat. Murphy ist zudem ein Meister der Inklusion und gilt als Vorreiter für Hauptrollen im Queer-Bereich.
Abgehalftert
Mit „The Prom“ adaptierte er ein Broadway-Musical von 2018, das die Geschichte von ein paar abgehalfterten Broadway-Stars erzählt, die in New York niemand mehr sehen möchte. Gerade wollen sie die Premiere ihres neuesten Musicals „Eleanor!“ feiern, als auch schon die ersten Kritiken eintrudeln. Und die sind vernichtend: „Kaufen Sie sich lieber einen Strick und hängen Sie sich daran auf, bevor Sie sich dieses Stück anschauen“, schreibt der Chefkritiker der New York Times. Danach ist Schluss mit lustig.
Dee Dee Allen, die Veteranin der traurigen Truppe und von Meryl Streep – wieder einmal – Oscar-verdächtig gespielt und ihr schwuler Sidekick Barry können sich die Verrisse nicht erklären. Einzig der Manager hat eine Erläuterung zur Hand: „Niemand mag Narzissten.“
Am Tiefpunkt ihrer Karriere angekommen – „Willkommen in der Arbeitslosigkeit“ – entdeckt eine der Bühnen-Tänzerinnen (Nicole Kidman) eine Twitter-Meldung: In einem kleinen Ort in Indiana wird der Schulball abgesagt, weil die konservative Direktorin verhindern möchte, dass eine lesbische Schülerin namens Emma dort Hand in Hand mit ihrer Freundin auftaucht.
Da kommt der New Yorker Truppe die zündende Idee: Sie wird in das Kaff der homophoben Hinterwäldler reisen, dort mit einem tollen Promo-Auftritt der „kleinen Lesbe“ helfen und mit dieser guten Tat ihren schlechten Ruf rehabilitieren.
Showstopper
An dem Erzählgefälle zwischen „progressiver Großstadt“ und „reaktionärer Provinz“ ist zuletzt Ron Howard mit seiner entpolitisierten Aufsteiger-Saga „Hillbilly Elegy“ gescheitert. Ryan Murphy aber schließt diese Kluft zwischen dem liberalen Amerika und seinem konservativen Widerpart souverän mit größtmöglicher Selbstironie – und wechselseitiger Läuterung.
Dee Dees Bühnen-Partner Barry, der sich selbst als „so schwul wie ein Eimer voller Perücken“ bezeichnet, nimmt den größten Anteil an Emmas Außenseiterschicksal. Doch mit dem Song „Liebe deinen Nächsten!“ werden Emmas feindselige Schulfreunde schließlich umgestimmt: Ihr Sinneswandel kulminiert in einer fulminanten Tanz- und Gesangseinlage, die eine gesamte Shopping Mall in eine berauschende Bühne verwandelt.
Aber nicht nur die rückständigen Provinzler, auch die zynischen New Yorker haben ihre Lektion in Nächstenliebe gelernt, sogar die eitle Dee Dee Allen: „Und ich dachte immer, nur Schwule mögen Musicals.“ Stellt sich heraus: Heteros auch.
Schlechte Zeiten
In der sogenannten „Ära der Depression“ feierte das US-Musical eine Hochblüte: „Die 42. Straße“ (1933) und „Goldgräber von 1933“ (1933) zählen mit ihren glamourösen Tanzeinlagen, choreografiert von Busby Berkeley, zu den Meilensteinen
Nostalgie
Als eines der besten Musicals aller Zeiten gilt „Singin’ in the Rain“(1952) mit Gene Kelly
(u. a. auf Amazon). Zuletzt feierte Damien Chazelle mit seinem Nostalgie-Musical „La La Land“ (2016) große (Oscar-)Erfolge (u. a. auf Amazon und iTunes)
Kritik zu "Sound of Metal": Schlagzeuger verliert Gehör
Nie mehr die Blätter rauschen, die Vögel zwitschern, die Grillen zirpen hören?
Mit dieser Option ist – völlig aus dem Nichts – ein Schlagzeuger namens Ruben konfrontiert. Gerade noch hat er während eines Konzerts wie ein Berserker mit nacktem Oberkörper auf sein Drumset eingeprügelt. Seine Musik ist laut, wütend und kathartisch, irgendwo angesiedelt zwischen Punk und Metal. Doch nach dem Konzert stellt sich plötzlich ein warnender Pfeifton in seinem Ohr ein – und danach verschwindet die Gehörwelt fast zur Gänze: Es klingt, als würde jemand versuchen, unter Wasser einen Radiosender einzustellen. Nur gedämpfte Töne und Klangfetzen bleiben übrig.
Die Diagnose des Arztes ist nicht beruhigend: Ruben hat auf beiden Seiten über 70 Prozent seines Gehörs verloren. Dieser voranschreitende Verlust muss zuerst gestoppt werden, erst dann lässt sich über eine mögliche Operation nachdenken.
Regisseur Darius Marder katapultiert seinen Protagonisten mitten hinein in sein tragisches Schicksal und verschweigt jegliche Vorgeschichte. Riz Ahmed als Ruben hat nicht viel Zeit, um sich und seinen Lebensentwurf neu zu arrangieren. Gemeinsam mit seiner Freundin haust er in einem Wohnwagen und tingelt von Konzert zu Konzert. Doch davon kann nach seinem Hörverlust keine Rede mehr sein.
Stattdessen landet er auf dem Land in einer Community von Gehörlosen, die den Mangel an Gehörsinn nicht als Behinderung, sondern als andere Lebensform wahrnehmen. Ruben lernt die Gebärdensprache und versucht, sich in die neue Gemeinschaft einzufügen.
Marder ist ein Meister darin, die Welt in Klänge und Stille zu unterteilen. Er überträgt Rubens eingeschränkte Hörfähigkeit in Tonexperimente, die uns als Publikum in dessen Wahrnehmung hineinversetzen. Plötzlich wird der Sound leiser, die Worte unverständlicher – unweigerlich greift man sich ans Ohr oder kontrolliert, ob man die Lautstärke des Films richtig eingestellt hat.
Diese immersive Strategie, uns immer wieder an Rubens verschwindender Gehörwelt teilhaben zu lassen, ist intensiv und faszinierend. Auch Riz Ahmed spielt seinen Ex-Schlagzeuger und Ex-Junkie mit hingebungsvollem Körpereinsatz. Die Geschichte jedoch, die rund um ihn herum gestrickt wurde, bleibt zu schematisch und verkürzt, um richtig tief hineinzuziehen.
INFO: Abrufbar auf Amazon Prime
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