Tabubruch: Yiwu über Chinas Gefängnisse

Der Schriftsteller Liao Yiwu hat mit seinem Buch über Schikanen und Misshandlungen in chinesischen Gefängnissen ein Tabu gebrochen.

Normalerweise bekam ein Neuer das Bett neben der Toilette, aber er wurde abseits zwischen zwei Todeskandidaten gesteckt. "Da kannst du über deine Stellung als Intellektueller nachdenken!", sagte der Zellenboss zu Liao Yiwu (53). Das hat der Schriftsteller getan. Und aus den Erfahrungen seiner vierjährigen Haft ein Buch geschrieben. Der Dissident hat sich nach Deutschland abgesetzt.

KURIER: Warum gerade jetzt die Ausreise?
Liao Yiwu: Wegen meines Buches, meiner Zeugenaussage. Mein Verlag hatte Sorge um meine Sicherheit in China.

Wie haben Sie die vergangenen Monate zugebracht?
Das war nicht einfach: Ich lebte quasi unter Hausarrest, habe oft von der Sicherheitspolizei Besuch bekommen. Manchmal wurde ich zu sogenannten Gesprächen bestellt. Immer wieder sagte man mir, dass ich meine Zeugenaussage im Ausland nicht veröffentlichen darf. Das sei gegen das Gesetz. Ich habe mir das angehört und gedacht: Nein! Ich möchte mein Recht zu schreiben und zu veröffentlichen verteidigen. Sie können mir diesen Wunsch nicht nehmen.

W as wirft man Ihnen vor ?
Ich habe ein langes Gedicht veröffentlicht (Massaker). Daraufhin bin ich verhaftet und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Dieses Buch ist die Aufzeichnung meiner Erlebnisse im Gefängnis. Ich war mit Leuten in einer Zelle, die zum Tode verurteilt waren. Und ich habe den innerlichen Kampf und die Ängste dieser Menschen genau beobachtet. Die Behörden kennen den Inhalt des Buches. Sie betrachten alles, was chinesische Gefängnisse angeht, als Staatsgeheimnis.

Sie haben sich einmal als Handwerker der Erinnerung bezeichnet - auch in Bezug auf frühere Publikationen. Was ist Ihre Intention?
Ein Intellektueller, ein Mensch, der sich um das Land und das Volk kümmert, muss die gesellschaftliche Realität aufzeichnen.
Obwohl die wirtschaftliche Entwicklung in China zu einem gewissen Grad positiv ist, muss das Volk einen hohen Preis dafür zahlen - für die zerstörte Umwelt, für die Ausbeutung der Arbeitskraft. Ich denke, die breite Bevölkerung hat nur wenig profitiert, sie leidet vielmehr unter der sehr schnellen Entwicklung der Wirtschaft.

Warum reagieren die Behörden oft so panisch, wenn Intellektuelle ihre Finger auf die Wunden legen?

Das ist nicht einfach zu beantworten. Es gibt eine schizophrene Mentalität von der obersten bis zu den unteren Ebenen. Alles hat zwei Seiten. Ein Beispiel: Die Polizisten, die mich ständig überwachten, mich quälten, mein Haus durchsuchten und verhörten, sind auch meine Leser. Meine Bücher sind in China zwar verboten, aber auf dem Schwarzmarkt kann man (Raub-)Kopien kaufen. Die meisten haben also meine Sachen gelesen und sagen privat, dass sie es toll finden, was ich schreibe. Eigentlich sei es noch schlimmer. Aber sie haben den Befehl bekommen, mich zu überwachen. Die leben auch in einer schizophrenen Situation. Einerseits sympathisieren sie mit mir, andererseits müssen sie mich unter Druck halten. So ist es auch in der obersten Führungsschicht. Einerseits gibt es ein Wirtschaftswunder. Andererseits Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Sie wissen nicht, wie sie die Lage unter Kontrolle halten und Macht erhalten können.

Das Gedicht, von dem Sie eingangs sprachen, haben Sie im Zuge der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 geschrieben. Wäre eine Bewegung so wie damals wieder möglich?
Die Menschen sehnen sich so stark nach Veränderung, dass sie ihre Wünsche nicht mehr bändigen können. Ihr Protest hat nicht mehr den friedlichen Charakter wie vor 20 Jahren. Das ist der Unterschied. Ich bin sehr besorgt.

Welche Perspektiven sehen Sie für sich und Ihr Land?
Ich bezeichne mich nicht als Exilant. Ich warte ab. Jetzt werde ich die Freiheit, zu schreiben und zu veröffentlichen, nützen. Ich denke, dass sich die Situation in China verändert. Nächstes Jahr gibt es einen Wechsel an der Führungsspitze. Ich bin guter Hoffnung, dass ich wieder nach Hause fahren und in einer akzeptableren Situation arbeiten und leben kann.

Zur Person: Schriftsteller und Dissident

Harte Kindheit: Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs in der Zeit der großen Hungersnot in China auf. Jahrelang schlug er sich mit Tagelöhner-Jobs, als Koch und Lkw-Fahrer und als Dichter durch. 1989 Im Zuge des Blutbades am Tiananmen-Platz verfasste er das Gedicht "Massaker", wofür er ins Gefängnis und ins Umerziehungslager kam. Seine Werke sind in China verboten, es kursieren aber Raubkopien.

Tipp: Berichte von ganz unten

Ich bin nur ein einfacher Mann, der die Gefühle des Volkes untersucht", sagte der Autor Liao Yiwu einmal über sich. Dafür wird er von offiziellen Stellen seiner Heimat verachtet, im Westen geschätzt. Ende Juli erscheint im S.Fischer Verlag "Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen". Ca 540 Seiten, 24,95 €.

Bereits 2009 erschien "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" (544 Seiten). In der Sammlung von Gesprächen kommt so mancher zu Wort, den es in China gar nicht geben sollte: die Prostituierte, der Obdachlose, Menschenhändler, Toilettenmann oder der desillusionierte Funktionär, der vom Kannibalismus im Hunger nach dem "Großen Sprung nach vorn" Ende der 50er-Jahre berichtet.

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