Der Hunger nach Helden
Die Albertina verfügt jedenfalls über unglaubliche Bestände sogenannter Historienbilder aus der Epoche, die gemeinhin Klassizismus genannt wird, und fördert nun eine Auswahl davon zutage (bis 27. 8.).
Zu sehen sind akribisch ausgeführte Zeichnungen – anders als viele seiner Zeitgenossen fokussierte Herzog Albert seine Sammelleidenschaft auf Papierarbeiten, die nichtsdestotrotz als vollendete Kunstwerke und nicht nur als Skizzen oder Vorstudien gelesen werden wollten.
Was genau im Gewirr der muskelbepackten Leiber, der aufgerissenen Augen und bedeutsamen Gesten dargestellt ist, musste Kuratorin Julia Zaunbauer teils erst mühsam herausfinden. Denn die Vertrautheit mit antiken Stoffen (wer kennt die bei Plutarch aufgeschriebene Geschichte des Herrschers Timoleon und seines tyrannischen Gegenspielers Hiketas?) wittert nicht erst seit gestern dahin. Selbst Albertina-Chef Klaus Albrecht Schröder vergleicht die Zeichnungen mit „Dinosaurierskeletten“, deren Größe man wohl erkennt, ohne sie wirklich zu verstehen.
Aus mangelnder Antiken-Kenntnis einen Verfall der Bildung (oder gar der Sitten) zu konstruieren, wirkt aber heute mehr denn je abgeschmackt. Muss nicht auch der Mensch des 21. Jahrhunderts, der sich geschmeidig am sozialen Parkett bewegen will, den Überblick über zahllose Epen haben? Muss man nicht neben seiner Kenntnis des „Marvel Cinematic Universe“ auch die Vertrautheit mit diversen Star-Wars-Spinoffs sowie zumindest Grundwissen über das „Game of Thrones“- und „Herr der Ringe“-Universum besitzen?
Der Unterschied ist natürlich der Rang der genannten Erzählwelten in der kulturellen Hierarchie, wo das Klassische nach wie vor hoch über dem Populären thront. Im Theater, in der Oper wird die Idee, die antiken Stoffe hätten uns über unser Menschsein Essenzielles zu sagen, eisern hochgehalten – Stücke, Rollen, Bühnenbilder werden dort aber bekanntlich laufend neu gedeutet. Etwas Vergleichbares passiert in der bildenden Kunst nicht.
Wo ist ein Regisseur?
Gerade den Beständen der Albertina aber würde etwas Regietheater guttun. Denn an die historischen Zeichnungen, die in der Schau in ziemlicher Monotonie entlang der Wände gehängt sind, ließen sich viele Fragen knüpfen: Welche Rollenbilder werden in diesen Bildern vermittelt, welche Ideale? Warum funktionieren die so genannten „Pathosformeln“, mit denen eine Figur bestimmte Zustände zum Ausdruck bringt, durch die Epochen hindurch? Wie sah das Wechselspiel dieser Bilder mit anderen Kunstwerken, mit Theater und Musik damals aus, was davon überlebt heute? Und wo hat sich das klassische Ideal von „edler Einfalt und stiller Größe“ schlicht überlebt?
Weisheit und Weißheit
Anderswo sind dazu längst heftige Debatten im Gange – nicht zuletzt in den USA, wo etwa Homers Epen nach wie vor Pflichtlektüre für Erstsemester am College sind.
Viele Vorfahren der heutigen Studierenden kannten die Menschen, die sich an diesen – auch durch die Aufklärung vorangetriebenen – humanistischen Bildungsidealen orientierten, allerdings vor allem als Sklavenhalter. Forscher wie der Stanford-Professor Dan-el Padilla Peralta, selbst Altphilologe, stellen heute offen die Frage, ob die Griechen- und Römer-Verehrung nicht abgeschafft gehört. Auch in dem Ideal der reinweißen Skulpturen, die die akademischen Künstler aus der Albertina-Schau um 1800 euphorisch abzeichneten, sieht er eine Wurzel des systemischen Rassismus.
Kann eine Ausstellung Diskussionen zu solchen Themen anstoßen? Es wäre unfair, die Schau für die Verfehlung eines Ziels zu kritisieren, das sie sich selbst nicht gesteckt hat. Dass die Albertina diese für ihre Identität so wichtigen Bestände sichtbar macht, ist gewiss ein wichtiger, guter erster Schritt. Ein frecherer Umgang damit, eine Befragung aus dem Heute sollte aber noch folgen.
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