Jeder kennt „Notting Hill“, zumindest aus dem Kino. In der Hit-Komödie von 1999 betreibt Hugh Grant in dem schmucken Stadtteil von London eine Buchhandlung und verliebt sich in Julia Roberts. Heute gehört Notting Hill längst zu den unbezahlbaren Trendvierteln der Stadt.
Das war nicht immer so.
Zu Beginn der 1950er-Jahre siedelten sich vor allem Emigranten aus den karibischen Inseln in dem herunter gekommenen, aber leistbaren Notting Hill an. Es entstand eine schwarze Community, die sich oft mit unglaublich rassistischen Übergriffen konfrontiert sah. Die Geschichte des legendären, karibischen Restaurants „The Mangrove“ legt davon beredtes Zeugnis ab. „The Mangrove“ wurde 1968 von dem aus Trinidad stammenden Frank Crichlow eröffnet und erfreute sich großer Beliebtheit. Pop-Stars wie Jimi Hendrix, Bob Marley oder Vanessa Redgrave ließen sich dort gerne sehen – allerdings auch die Polizei. Innerhalb eines Jahres wurden zwölf(!) Razzien durchgeführt, Besitzer und Gäste brutal attackiert. 1970 kam es schließlich zu einem Protestmarsch gegen die Polizeiübergriffe, der in Gewalt endete und neun schwarze Aktivisten – „The Mangrove Nine“ – vor Gericht brachte.
Es ist genau dieses Ereignis, mit dem der Künstler und Filmemacher Steve McQueen – Oscarpreisträger für das Sklavendrama „12 Years a Slave“ – seine fünfteilige Filmserie „Small Axe“ (auf Amazon Prime) eröffnet.
Über zehn Jahre lang trug sich Steve McQueen mit dem Projekt: Die Erfahrungen der „Windrush Generation“ und ihrer Kinder zu erzählen.
Windrush
„Windrush“ deswegen, weil 1948 auf dem Schiff „Empire Windrush“ rund 500 Migranten von den karibischen Inseln nach England kamen – ein Meilenstein in der Emigrationsgeschichte, von dem es in der Popkultur kaum nennenswerte Zeugnisse gibt. Damit fehlen nicht nur die Erfahrungen der Menschen aus der westindischen Community, sondern ein Teil britischer Geschichte. Steve McQueen, selbst der Sohn eines Vaters aus Grenada und einer Mutter aus Trinidad, wollte dies ändern.
Ursprünglich plante der 1969 in London geborene Künstler für die BBC eine TV-Serie, die sich über den Zeitraum der späten 60er-Jahre bis Mitte der 80er-Jahre erstreckt und von der Erfahrung schwarzer Briten berichtet. Doch die Vielfalt der Geschichten veränderten McQueens Zugang: Er drehte fünf eigenständige Filme, die zwar thematisch zusammenhängen, aber auch als Einzelfilme funktionieren.
Der Übertitel „Small Axe“ bezieht sich auf das jamaikanische Sprichwort „Eine kleine Axt kann einen großen Baum fällen“, das von Bob Marley im gleichnamigen Song popularisiert wurde. Es sind exakt diese „kleinen Äxte“, die in den dicken Baum des Rassismus geschlagen werden, wovon McQueen in seiner exzeptionellen Filmreihe „Small Axe“ erzählt.
Karibische Küche
Als Frank Crichlow sein Restaurant „Mangrove“ eröffnet, hat er nur eines im Sinn: Exquisite, karibische Küche zu servieren. Doch die Polizei sieht das anders: Wenn das „Mangrove“ einem schwarzen Besitzer gehört, muss es sich entweder um einen Sex-Club oder einen Drogenumschlagplatz handeln. Nach jedem Polizeibesuch liegt das halbe Lokal in Trümmern.
Shaun Parkes ist großartig als unwilliger Frank Crichlow, der eigentlich nur seine Ruhe haben will und erst durch die permanenten Übergriffe zwangspolitisiert wird. Nachdem die Protestdemo gegen Polizeigewalt eskaliert ist, landet er mit acht weiteren Mitstreitern auf der Anklagebank.
„Mangrove“ ist der erste und längste Film der Reihe „Small Axe“: Angetrieben von einer energetischen Kamera, herausragend gespielt und brillant ausgestattet im Detail, womit McQueen die späten 60er und frühen 70er heraufbeschwört, funktioniert „Mangrove“ als packendes Gerichtssaaldrama.
In veränderter Tonlage geht es mit dem Film „Lovers Rock“ weiter, der fast ausschließlich aus der Perspektive der Tanzfläche erzählt ist. Dort feiern junge Menschen Party und wiegen sich im Reggae-Rhythmus, mal allein und mal zu zweit. Liebesbeziehungen bahnen sich an, eine endet im sexuellen Übergriff.
McQueen erzählt das Lebensgefühl einer Community vor allem aus der Perspektive der Frauen, die ihre Glitzerkleider ausführen, Spaß haben und mit Gewalt umgehen müssen.
Nach Star Wars
In seiner ersten Rolle nach seinen „Star Wars“-Auftritten als Finn ist John Boyega im dritten Teil „Red, White, and Blue“ als Leroy Logan zu sehen. „Ich will zur Force“, erzählt er einem Freund, der sich einen „Star Wars“-Witz nicht verkneifen kann: „Willst du ein Jedi werden?“
Nein, Leroy möchte Polizist werden, ein richtiger, britischer Bobby. Sein Vater, der gerade von der Polizei verprügelt wurde, ist deswegen so sauer, dass fast die Beziehung daran zerbricht. Aber Leroy lässt sich nicht abhalten: Er will dafür sorgen, dass auch schwarze Bürger gerecht behandelt werden. Sein Kampf als Außenseiter an allen Fronten ist zermürbend: Leroy Logan hätte das Zeug zum Helden, aber man lässt ihn nicht. Seine Bemühungen enden nicht im Triumph, sondern in einem Kampf, der bis heute noch nicht ausgefochten ist.
Das wäre eine treffende Schlussbemerkung.
Bleibt noch der Hinweis auf die Filme „Alex Wheatle“ und „Education“: Ersterer erzählt die wahre Geschichte vom steinigen Weg eines Waisenknaben zum erfolgreichen Schriftsteller. In „Education“ wird ein schwarzer Bub aus dem Schulsystem ausgemustert und in eine Schule für „Subnormale“ gesteckt. Erst engagierte Aktivistinnen decken die rassistische Struktur hinter der systematischen Benachteiligung schwarzer Kinder auf. Doch sie haben Hoffnung: „Es gibt jetzt eine neue Unterrichtsministerin. Vielleicht kann die uns helfen.“
Vielleicht auch nicht. Ihr Name ist Margret Thatcher.
Kommentare