Es ist eine Geschichte über die Intensität der Jugend: Ein Neunzehnjähriger, ein Suchender wie viele in seinem Alter, schließt Freundschaft mit einem etwas jüngeren, wesentlich wilderen, ja man könnte sagen: völlig durchgeknallten Typen. Dieser stellt das Leben unseres Protagonisten auf dem Kopf, zeigt ihm neue Wege, seine Identität zu formen, inspiriert ihn zu zeichnen, zu malen, aber auch zu dichten. Der Junge wird nie wieder derselbe sein.
Der besagte Neunzehnjährige hieß Egon Schiele. Aus dem Funkenflug seiner kurzen Beziehung mit Erwin Johann Dominik Osen (1891 – 1970) gingen einige seiner ausdrucksstärksten Bilder hervor. Mittelfristig sollte die Episode, die sich in den Jahren 1909 und 1910 abspielte, noch viel länger nachwirken.
Denn die Ausdruckskunst, für die Schiele bekannt wurde – mit ihren exaltierten Gesten, der Uneindeutigkeit in der Darstellung des Geschlechts und der Überdehnung vieler Normen – inspirierte Generationen: Nicht nur Künstler wie Arnulf Rainer und Günter Brus sind dabei zu seinen Nachfolgern zu zählen, auch in den gestischen Selbstinszenierungen von Stars wie David Bowie oder Falco finden sich noch Echos davon.
Queerer Influencer
Dass Erwin Osen, den man durchaus als „Influencer“ bezeichnen könnte, erst jetzt mit einer Buchmonografie fassbar wird, hat sich der vielseitige Künstler – er war u. a. Bühnenbildner, Maler, Filmer und Pantomime – auch selbst zuzuschreiben. „Keine mir bekannte Persönlichkeit des frühen 20. Jahrhunderts hat sein Leben und Werk so vernebelt wie er“, sagt Christian Bauer. Der Ex-Direktor der Landesgalerie Niederösterreich und Kurator des Schiele-Museums Tulln verbrachte mehr als drei Jahre damit, aus bisher teils unbekanntem Quellenmaterial ein äußerst exaktes und umfassendes Porträt Osens zusammenzustellen.
Multiple Identitäten
Osen – er nannte sich zeitweise „Van Osen“ oder, japanisch inspiriert, „O-Sen“, dann wieder „Dom Osen“ – zimmerte sich seine Identität nach Belieben zurecht. Er erzählte in Münchhausen-Manier von Reisen, die er nie unternommen hatte, und zog als „Beweise“ dafür unter anderem eine Sammlung von Asiatika hervor. Dass sich in dieser eine Opiumpfeife befand, die auch in Gebrauch war, sieht Bauer als Hinweis, dass „Drogen bei bildenden Künstlerinnen und Künstlern des frühen 20. Jahrhunderts ein größeres Thema waren, als dies bisher bekannt ist“.
Der mikroskopische Blick auf die Beziehung zwischen Schiele und Osen offenbart aber noch andere Facetten – etwa eine gemeinsame Liebe zum Stummfilm-Kino, die sich wohl entfaltete, als die beiden Künstlerfreunde ein Atelier in der Alserbachstraße 39 teilten. In dem Gebäude befand sich auch ein Lichtspieltheater. Osen sollte in den 1920er-Jahren selbst als Filmemacher tätig werden – gemeinsam mit seiner Frau, die sich den asiatisch klingenden Namen Iby Chong zugelegt hatte, tatsächlich aber Käthe Brzezinski hieß.
„Erwin Osen war als Kunstfigur immer von Kunstfiguren umgeben“, sagt Bauer. Eine davon war die Tänzerin Moa Mandu, die sowohl Osen als auch Schiele in ausdrucksstarken Aquarellen porträtierten.
Dass die beiden Ateliergenossen voneinander abschauten, ist gut belegt. Dass so mancher Osen aus jener Zeit in Wirklichkeit ein Schiele sei und umgekehrt, konnte Bauer durch seine Recherchen aber nicht erhärten. In Kunsthandelskreisen machte dieser Verdacht immer wieder die Runde, teils äußerte er sich auch in hohen Preisen für Osen-Blätter.
Homoerotik
Was sich in den Bildern jener Zeit jedenfalls zeigt, ist ein intimer Dialog: Schiele malte Osen als Akt, Osen replizierte mit teils androgynen, hoch erotisierten Schiele-Darstellungen. Ob die beiden jungen Männer ihre Beziehung auch sexuell auslebten, ist nicht eindeutig belegbar – „aber wenn man die Bildquellen liest, kann man davon ausgehen, dass es eine sexuelle Erfahrungsdimension gegeben haben muss“, sagt Bauer. Gerade die Abstufung und Uneindeutigkeit aber mache die Geschichte im Lichte heutiger Debatten so fruchtbar, findet er: „Osen stand für einen individualisierten Geschlechterkompass – das, was wir heute als queer bezeichnen“.
Christian Bauer:
„Erwin Osen – Egon Schieles Künstlerfreund“
Hirmer Verlag.
224 Seiten.
46,30 Euro
Dass viele Zeitgenossen mit diesen Schattierungen nicht umgehen konnten, liegt auf der Hand. Es war Schieles Mentor und Quasi-Manager Arthur Roessler, der Osen drei Jahre nach dem Tod Schieles in dem Text „Begegnung mit dem Abenteurer“ als zwiespältigen Blender darstellte. Mit dem Pseudonym „Neso“ („Osen“ rückwärts buchstabiert) war der Künstlerfreund dürftig anonymisiert, doch die Kränkung dürfte nachhaltig gewesen sein. „Osen hat den Namen Schiele aus seinem Leben gestrichen und hat nie über ihn erzählt“, berichtet Bauer. Erst als der „Neso“-Code 1948 öffentlich enttarnt wurde und Osen Roessler wegen einiger im Text erhobener, strafrechtlich relevanter Vorwürfe klagte, ließ er sich einige Erinnerungen entlocken.
Voneinander entfernt
Das Ende der Beziehung ist nicht klar belegt – Schiele und Osen dürften sich oft gestritten und wieder versöhnt haben, sagt Bauer, am Ende entfernten sie sich wohl voneinander. Osen machte in der Folge mit einem Bühnenbild für „Parsifal“ in Prag von sich reden und schuf während des Ersten Weltkriegs im Auftrag von Ärzten Porträts psychisch Kranker (das Leopold Museum widmete dieser Episode 2021 eine Schau).
Später malte Osen teils spiritisch-kitschige Bilder, ab 1934 vermehrt Porträts, dann Stadtansichten, Naturmotive. „Ambivalent“ nennt Bauer sein Spätwerk: „Osen war geboren, um jung zu sein.“ Mit seinen biografischen Bocksprüngen tat sich der Künstler zunehmend schwer: So war er ab 1940 NSDAP-Mitglied, leugnete dies später aber und behauptete – wohl fälschlich – Halbjude zu sein.
Für Friedensreich Hundertwasser, der Osen in den 1960er-Jahren kennenlernte und ihm 1996 einen Text widmete, tat dies wenig zur Sache: „Es ist als ob Dom Osen ständig ausweicht, ständig auf der Flucht ist“, schrieb er. „Als ob sein Woanderssein sein richtiges Zuhause ist.“
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