Opernchef Serge Dorny: "Wir brauchen das Elitäre für alle"
Lyon ist für Freunde des zeitgenössischen Musiktheaters immer eine Reise wert. Zumindest seit der gebürtige Belgier Serge Lyon 2003 die Opéra National de Lyon übernommen und aus dem eher verschlafenen Haus ein pulsierendes, kulturelles und soziales Zentrum der Stadt gemacht hat. Anlässlich einer überaus packenden Premiere von Puccinis „Tosca“ gewährte der designierte Intendant der Bayerischen Staatsoper dem KURIER Einblicke in seine Gedankenwelt.
Barrierefrei
Denn für Dorny ist Oper weit mehr als Kunst. „Musiktheater ist eine Form des Diskurses, des gemeinschaftlichen Nachdenkens über die allgemeingültigen und aktuellen Problemen der Menschheit.“ Und weiter: „Oper wird sehr gern als etwas Elitäres gesehen, als nur bestimmten Schichten zusteht. Das ist ein fataler Irrtum. Ja, wir brauchen das Elitäre, aber das Elitäre für alle“, so Dorny, der in Lyon das Haus für alle Schichten und besonders für die Jugend geöffnet hat. „Ich nenne das eine gesellschaftliche Barrierefreiheit.“
Dorny: „Wir haben die Verpflichtung, den Zugang zur Kunst als etwas sozial Relevantes allen Menschen zu ermöglichen. Das habe ich hier in Lyon versucht, indem ich etwa den Skatern, die regelmäßig vor unserem Haus in ihre Runden gedreht haben, einen Platz in unserem Haus gegeben habe. Auch die Arbeit an Schulen, in Gefängnissen oder mit Migranten und Flüchtlingen hat einen zentralen Stellenwert. Kunst und Oper gehört allen. Und wenn wir als Institution zu den Menschen hinaus gehen, dann kommen dieses Menschen auch wieder zu uns auf Besuch. Das ist ein Geben und Nehmen“, so der deklarierte Verfechter moderner Klassikinterpretationen.
Staubfrei
In Lyon hat das funktioniert. So hat Dorny die Abonnementquote von einst mehr als 80 auf nunmehr etwa 20 Prozent reduziert. „Denn jede Form von Erstarrung ist immer auch eine Form der Einschränkung. Und die Schranken sollte man durchbrechen. Nicht nur, aber auch in der Kunst. Denn die Welt ist in Bewegung, verändert sich. Und wir verändern uns mit ihr. Dem sollten wir Rechnung tragen. Es ist sehr schön, in ein Museum zu gehen und berühmte Bilder zu sehen. Diese Bilder aber verändern sich nicht. Die Oper aber darf kein Museum sein. Hier sollte man staubfrei etwas Großes erleben können.“
Divenfrei
Was für Dorny noch zählt: „Ich glaube auch nicht daran, dass es die eine einzige, ultimative Sicht auf ein Werk geben kann. Das wäre entsetzlich. Verschiedene Interpretationen eines Stückes müssen möglich sein. Es gibt im Musiktheater auch nichts Richtiges oder Falsches. Regisseur Christophe Honoré etwa hat auf unsere neue ‚Tosca‘ einen sehr speziellen Blick geworfen. Er kommt vom Film und hat in seiner Arbeit den Begriff der Diva hinterfragt. Geht eine divenfreie ‚Tosca‘ oder gar eine divenfreie Welt? Eine spannende Frage, oder?“
Auch die Zusammenführung der einzelnen Kunstsparten und die Vergabe von Auftragswerken ist für Dorny „eine logische Verpflichtung“. Denn: „Dieses Spartendenken engt geistig ein. Und was Uraufführungen betrifft: Wir haben in Lyon versucht, jedes Jahr zumindest ein neues Werk aus der Taufe zu heben. Es gibt an die 50.000 Opern, von denen wir vielleicht 80 regelmäßig spielen. Wir bedienen uns also aus einem Kanon, der uns geschenkt wurde. Und ich finde, wir sollten die Kanon auch für die Nachwelt nicht nur erhalten, sondern sukzessive erweitern.“
Tränenfrei
Doch wird es dem Intendanten schwerfallen, Lyon zu verlassen und 2021/’22 nach München zu gehen? „Nein, ich bin sehr gerne hier, aber ich blicke immer in die Zukunft. München hat eine so reiche kulturelle Tradition, so ein blühendes künstlerisches Umfeld. Warum sollte ich da Tränen vergießen?“ Das Erfolgsrezept von Lyon wird der designierte Chef nicht nach München exportieren. „Das lässt sich nicht vergleichen. Eines aber wird bleiben: Ich werde auch in München nicht aufhören, Fragen zu stellen.“
Kritik: "Tosca" in Lyon: So geht Musiktheater
Tolle Deutung des Puccini-Klassikers von Christophe Honoré
Darf man den einzigen Einwand gleich zu Beginn formulieren? Wer bis dato Giacomo Puccinis „Tosca“ noch nie gesehen hat, wird sich mit der Inszenierung von Christophe Honoré schwertun. Denn der vom Film kommende Regisseur hinterfragt an der Opéra National de Lyon – es handelt sich eine Koproduktion mit dem Festival Aix-en-Provence – jedes Klischee, das man bei diesem populären Werk zu kennen glaubt. Das macht Honoré dank eines grandiosen Kunstgriffs fabelhaft.
Zwei Diven
Der Kunstgriff? In Lyon gibt es nicht eine Tosca, sondern (mindestens) zwei. Da wäre einerseits die Interpretin der Titelpartie – vokal wie darstellerisch einfach grandios die russische Sopranistin Elena Guseva. Andererseits gibt es eine ehemalige Primadonna, die als Tosca Welterfolge gefeiert hat, und über deren Leben mit dieser Partie eine Doku gedreht wird. Diese Primadonna wird vom einstigen Superstar Catherine Malfitano (71) verkörpert, die als Tosca nicht nur an den Originalschauplätzen (mit Plácido Domingo) auch im realen Leben Operngeschichte geschrieben hat.
Und diese Diva mischt sich in die „Tosca“-Aufführungen auf ihrem Landsitz immer wieder ein, spricht, gibt Rat, singt mit, verzweifelt, schwelgt in der Vergangenheit, übernimmt berührend die Partie des Hirtenknaben und wird sich letztlich bei Toscas Sprung von der Engelsburg (die es so in der tollen Ausstattung von Alban Ho Van nicht gibt) die Pulsadern aufschneiden.
Dazu kommt, dass Honoré virtuos mit Video-Projektionen und Live-Kameras spielt. Oft laufen vier Szenen parallel ab. Die Ebenen von Traum und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Schein und Sein vermischen sich. Soll man Mario (solide, nur am Ende stark: Massimo Giordano), Scarpia (auf Linie singend: Alexey Markov) oder doch der filmischen Ebene folgen? Das Auge ist nebst dem Ohr (exzellent: Chefdirigent Daniele Rustioni am Pult des Lyoner Opernorchesters) extrem gefordert.
Viele Toscas
Allein bei der Arie „Vissi d’ Arte“ singt Guseva live, assistiert Malfitano gestisch, sind auf den gigantischen Videoflächen zeitgleich berühmte Tosca-Interpretinnen der Vergangenheit wie etwa Maria Callas mit diesem Welthit visuell zu erleben. Das alles aber ist plausibel, eindringlich, poetisch, mitunter brutal, klug gedacht gemacht und herzzerreißend.
Peter Jarolin
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