Michieletto schwärmt auch von Alexander Raskatovs Sinn für das Surreale, das er im Libretto (mit Ian Burton) gekonnt mit präzisen Anspielungen verbindet, wie Stalin-Zitaten. Aber besonders ist ihm in Erinnerung geblieben, wie ihm der Komponist das Auftragswerk präsentiert hat: „Er saß vor seiner mit Bleistift handgeschriebenen Partitur, hat Klavier gespielt und mit seiner Frau gemeinsam die ganze Oper durchgesungen. Alle 19 Charaktere haben sie sich aufgeteilt!“
Im Schlachthaus
„Animal Farm“ feierte seine Uraufführung – dann mit genügend Sängerinnen und Sängern – 2023 in Amsterdam. Michieletto hat die Handlung in ein Schlachthaus verlegt – um nicht in die Gefahr einer „Bauernhof-Lieblichkeit“ zu kommen. Für die Künstler auf der Bühne ist diese Aufführung besonders fordernd, müssen sie doch Masken tragen. Sie bestehen aus einem Eisenrahmen mit Eisennetz – leicht sind sie nicht. Michieletto erzählt, dass es die größte Schwierigkeit war, die Masken so designen zu lassen, dass Singen damit noch möglich ist.
Die Schweine-, Pferd- und Ziegenmasken bringen aber noch so manchen Nebeneffekt mit sich, erzählt Choreograf Thomas Wilhelm: „Man merkt nicht sofort, wer singt. Das ganze Ensemble muss mithelfen, darauf hinzuweisen, wer gerade im Fokus ist. Und das Tragen der Köpfe bringt eine ganz andere Körperlichkeit: Man kann damit nicht einfach lässig herumstehen.“
Wie ein Totem
Michieletto findet noch einen weiteren Aspekt interessant: „Ich habe schon öfters festgestellt: Wenn man mit einer Maske auftritt, entwickelt man eine richtige Liebe zu ihr. Die ist wie ein Totem.“
Ist Orwells Text, der doch stark auf den Kommunismus zugeschnitten ist, heute noch aktuell? „Auf jeden Fall, man kann viele Verbindungen in das heutige Europa, in die heutige Welt ziehen“, sagt Michieletto. „Es geht um die Frage, ist Demokratie überhaupt möglich? Die Tiere stellen ja Regeln auf am Anfang, und dann werden die immer stärker abgeändert. Zu Beginn heißt es ,Alle Tiere sind gleich’. Am Ende gibt es den Zusatz: ,aber manche sind gleicher’. Und das ist genau die Welt, in der wir leben. Reiche und mächtige Menschen haben Ausnahmen von den Regeln. Die Idee der Freiheit, die die Demokratie verspricht, ist immer nur ein Konzept. Sobald es real wird, zerfällt es. Und es gibt nicht mehr die Freiheit, sondern viele verschiedene Freiheiten“.
Einen Traum verkaufen
Kommt daher der Wunsch nach dem „starken Mann“, der immer durch Umfragen geistert? Der Italiener Michieletto kennt das: „Einer, der für alle entscheidet, das ist für viele Italiener okay, denn es macht Dinge einfacher. Aber es ist auch da wie in ,Animal Farm’: Es beginnt mit einer Idee, der man vertraut. Jedes System muss einen Traum – hier Zuckerwatte – verkaufen an die Leute. Wenn sie daran glauben, sind sie bereit, ihr Leben zu geben. Und dann entwickelt sich eine Diktatur.“
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