Martin Walser ist tot
Sein Tod ist einer jener seltenen Momente, in denen mit einem wichtigen Künstler auch eine Daseinsform stirbt, eine Ausformulierung von Kultur, die gesellschaftlich prägend war, aber keinen Nachhall mehr im Nachwuchs hat.
Mit Martin Walser geht er ab, der streitbare Autor, an dem eine Gesellschaft nicht vorbeikann, auch wenn sie das noch so gerne würde.
Wie leicht fällt das heute, unbeugsame, widerborstige, auch unangenehme Stimmen im Lärm zu ertränken, insbesondere, wenn sie aus dem langsamen Knarzen der Literatur kommen. Wie schwer fiel es Deutschland (und auch ein wenig Österreich), Martin Walser aus dem Blick zu bekommen.
"Sanfter Wüterich"
Bei ihm fielen Literatur, zuletzt zunehmend eine Form des Zwiegesprächs mit sich selbst, und eine felsbrockenartige Form des Staatsmännischen zusammen: Walser definierte Deutschland mit. Der Autor war, so titulierte ihn einmal Die Welt, „der Houellebecq der frühen Bundesrepublik“, Hans-Magnus Enzensberger hieß ihn einen „sanften Wüterich“: Walsers Texte, auch sein – das altertümliche Wort passt hier! – Gehabe eckten an.
Da muss man gar nicht nur an die berüchtigte Paulskirchenrede Walsers denken, von der er sich später selbst („ein Fehler“) distanzierte, in der er aber 1998 von der „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ sprach, ein Wort, das die damals noch junge Berliner Republik ins Mark traf. Er habe gar nicht die jüdischen Organisationen gemeint, wie es alle verstanden hatten, sondern Günter Grass und Walter Jens, sagte er später, obwohl er in derselben Rede das Holocaustdenkmal in Berlin als „Monumentalisierung der Schande“ ausrief.
Die Macht des Autors
Heute hört man Ähnliches längst in jeder Ecke des Internets. Dennoch: Mit dieser Rede wurde der Diskurs in Deutschland verschoben. Welche Macht eines Autors. Walser, der sich zeitlebens mit der deutschen Schuld auseinandersetzte, schlug danach auch ihm entgegengestreckte Hände aus – „das war von allen Fehlern, die mir passiert sind, der schlimmste.“
Vom Bodensee aus
Dieser Kulminationspunkt der Walser’schen Vita kam nicht aus dem Nichts heraus: Walser, 1927 als Sohn eines katholischen Gastwirts in Bayern geboren, zog sich in den 1950er-Jahren nach ersten literarischen Erfolgen aus der deutschen Intellektuellenszene zurück an den Bodensee. Den hiesigen Dialekt sprach er zeitlebens, eine Verortung, die in der auf Weltgewandtheit getrimmten Literaturszene mit hochgezogenen Augenbrauen registriert wurde.
Von dort aus beobachtete er die Bonner Bundesrepublik, er sah sie im Kleinstädtischen, im Familiären, aber auch im Promiskuitiven und Karrieregeilen der Wirtschaftswunderjahre. Seine Spießerbeobachtung ließ sich einladend leicht mit Spießerliteratur verwechseln, wer ihm übelwollte, tat dies auch.
Bestsellerautor
Sein bis heute berühmtestes Buch ist „Ein fliehendes Pferd“ (1977), ein wilder Ritt über den Bodensee der Paarbeziehung und der Weltbeziehung: Ein Lehrerpaar, glücklich im Zurückgezogenen, und ein weltoffener Journalist und seine talentierte Frau messen ihre Lebensentwürfe aneinander – und sich zuletzt mit der mächtigen Natur.
Für Walser war die Novelle der Wendepunkt: Plötzlich war er Bestsellerautor. Mit der neuen Öffentlichkeit aber fremdelte er auch. Insbesondere die Literaturkritik ärgerte ihn derart, dass er 2002 in „Tod eines Kritikers“ – nur vier Jahre nach seiner Paulskirchenrede! – einen von Marcel Reich-Ranicki inspirierten Kritiker imaginiert um die Ecke brachte.
Bis spät schrieb er, bis spät verharrte er an jenen Punkten, die kontroversiell waren. Er unterzeichnete etwa den viel kritisierten Brief gegen Waffenlieferungen an die Ukraine.
➤ Mehr lesen: Schwarzer und Walser warnen vor der Gefahr eines 3. Weltkriegs
„Wenn das Leben nicht mehr tobt, warum soll man dann noch leben?“, schrieb er 2022 in der Zeit über das Sterben. Nun ist Walser 96-jährig gestorben.
Kommentare