Schon der trashige Titel „Dr. Brain“ verheißt einen schrägen Mix aus Science-Fiction, Neo-Noir, Frankenstein und „Flatliners“. Im Zentrum des somnambulen Psychothrillers steht ein gewisser Dr. Sewon Koh, von Beruf brillanter Neurologe und so etwas wie ein Hirn-Hacker: Er arbeitet daran, die Erinnerungen von Toten anzuzapfen und mittels „Hirnwellenkoppelung“ und „Gehirnsynchronisation“ in sein eigenes Gehirn zu übertragen. Seine Umgebung reagiert auf diesen „Hirnquatsch“ skeptisch: „Sind Sie auf Drogen?“
Zuerst probiert Sewon seine seltsame Methode nur an Ratten aus. Er setzt einer verstorbenen weißen Ratte einen Helm auf, verkabelt sie mit einer lebenden schwarzen Ratte – ebenfalls mit Helm – und lässt die Gehirnströme von einem Tier zum anderen fließen. Irgendwann reißt ihm jedoch die Geduld und er setzt sich den Übertragungshelm selbst auf, um die Memoiren eines vermeintlichen Unfallopfers in seinen Kopf zu exportieren.
Die Resultate zeigen erstaunliche Wirkung: In traumhaften Filmsequenzen sieht Sewon nicht nur die Erinnerungen der Toten, er nimmt auch deren Eigenschaften an. So wird er plötzlich zum Linkshänder und süffelt genussreich Kaffee und Alkohol, zwei von ihm verhasste Getränke. Als er von einem dubiosen Privatdetektiv kontaktiert wird, beschließt er, den Unfalltod seines Sohnes und den Selbstmordversuch seiner Frau aufzurollen und auf Ungereimtheiten zu untersuchen.
Der Regisseur von „Dr. Brain“ heißt Kim Jee-woon und zählt zu den stilsichersten Unterhaltungsspezialisten des südkoreanischen Kinos. Ehe Kim mit „Dr. Brain“ seine erste Serie in Angriff nahm, drehte er elegante Genre-Filme wie den von Sergio Leones „Zwei glorreiche Halunken“ inspirierten Western „The Good, the Bad, the Weird“ (Amazon) oder den Spionagethriller „The Age of Shadows“ (Amazon).
Seinen internationalen Durchbruch aber schaffte Kim Jee-woon mit „A Tale of Two Sisters“ von 2003, der als einer der besten Psycho-Horrorfilme des südkoreanischen Kinos gilt und der erste seiner Art war, der in den amerikanischen Kinos gezeigt wurde.
„A Tale of Two Sisters“ (Amazon) spielt in einem einsamen Haus am Land, wo zwei junge Mädchen unter den Bann ihrer bösen Stiefmutter fallen. Bald vermischen sich Einbildung und Wirklichkeit zu albtraumhaften Sequenzen, die Kim in farblichen Delirien auflöst.
Der knallrote Lippenstift der Stiefmutter passt zum tiefroten Teppich ebenso wie zum rinnenden Blut und duelliert sich mit dem dunklen Violett ihrer Bluse.
Mit schiefen Kamerawinkeln verstärkt Kim die verzerrten Wahrnehmungen der gequälten Schwestern.
Auch in „Dr. Brain“ findet Kims visuelle Extravaganz in den glühenden Farben des nachtschwarzen Seoul besonders formschöne Momente.
Einen herrlichen Höhepunkt erlebt die Serie, wenn Sewon einer toten Katze den Helm aufsetzt, um ihre Erinnerungen – sie war Zeugin eines Mordes – in sein Hirn zu übertragen. Sewon übernimmt daraufhin nicht nur kurzfristig, die ... äh ... Katzenperspektive, sondern kann auch leichtfüßig von einem hohen Fenstersims springen. Katzen fallen ja bekanntlich immer auf die Füße.
Apple war es übrigens nicht zu blöd, „Dr. Brain“ mit dem Hauptdarsteller Lee Sun-kyun zu bewerben, weil er auch in Bong Joon-hos exquisitem Oscar-Hit „Parasite“ den reichen Familienvater spielte.
Ein Anlass mehr, um „Parasite“ (Prime Video) bei Bedarf nachzuholen. Der Lockdown wäre die Gelegenheit.
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