Gisèle Vienne, französische Choreografin, Regisseurin und auch Puppenmacherin mit österreichischen Wurzeln, lässt sich viel Zeit: Erst nach Minuten taucht die Silhouette eines Autos auf, die Lichtkegel der Scheinwerfer durchdringen den dichten Nebel. Drinnen – in der „Fahrgastzelle“ – sitzen zwei junge Menschen. Sie essen Chips, trinken Bier, lachen, reden, hören Radio.
Vor knapp zwei Jahren verstörte Gisèle Vienne bei den Wiener Festwochen mit „L’Étang“ nach Robert Walser. Nun präsentierte sie im Tanzquartier ihre neue, thematisch verwandte Produktion „Extra Life“, die, bei der Ruhrtriennale im Sommer 2023 uraufgeführt, zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen wurde.
Die Nebel lichten sich nie. Aber irgendwann wird zumindest deutlich, dass Klara nach Langem den Kontakt zu ihrem Bruder Felix gesucht hat. Sie nahm ihn mit zu einer Party, nun dämmert der Morgen, es dürfte bereits 5:38 sein. Vögel beginnen zu singen, Möwen zu kreischen.
Gisèle Vienne hat zwar eine unwirtliche Mondlandschaft angedeutet (im Radio referiert jemand über Aliens), tatsächlich aber dürfte Klara das Auto am Strand geparkt haben. Die Zeit scheint stillzustehen. Denn es bleibt immerzu 5:38. Die Zahl könnte auch ein Hinweis auf das Evangelium nach Matthäus sein: Gisèle Vienne lässt vieles im gespenstisch Vagen.
Es lässt sich daher auch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob die Geschwister offen darüber reden, einst vom Onkel oder Opa (die englische Übertitelung des französischen Textes hat definitiv Schwachstellen) missbraucht worden zu sein.
Bewegungen in Zeitlupe
Vielleicht dröhnen sie sich auch nur zu – mit Musik von Salem und Drogen? In Trance steigen die Geschwister aus dem Auto, sie bewegen sich extrem langsam – wie bei einer Expedition auf einem fernen Planeten. Hat nicht Felix (Theo Livesey), begeistert von Computergames (samt Extraleben), eine Mission? Doch dann gesellt sich eine dritte Figur hinzu, der Avatar (oder das Alter Ego) von Klara. Sie übernimmt, ähnlich angezogen, von Adèle Haenel, die in „L’Étang“ beeindruckte, den aktiven Part: Zur minimalistischen Elektronik-Symphonie von Caterina Barbieri (mit Verweisen auf die 70er-Jahre) bäumt sich Katia Petrowick auf, dann krümmt sie sich zu wummernden Tönen. Klara schluchzt, schreit.
Ihr Leben wie jenes des Bruders wurde zerstört, an der Rampe versinnbildlicht eine Puppe, so Gisèle Vienne, das innere Kind, das bei der Vergewaltigung gestorben ist. Zwischendurch schockt ein Horror-Moment, Yves Godin versinnbildlicht die Qualen mit einer Vielzahl von Laserstrahlen, die den Raum zerschneiden. Ein durchaus intensives Erlebnis. Mit einer Dauer von zwei Stunden aber um einiges zu lang.
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