Ihren ersten Filmjob hatte June Squibb mit 61. Nicht, dass die 1929 geborene Tochter eines Versicherungsbeamten und einer bekannten Pianistin aus Vandalia, Illinois, nicht schon als junges Mädchen Theaterblut geleckt hatte; sie trat mit 20 einer Theatertruppe bei und machte mit 30 ihr Debüt am Broadway. Um sich jedoch ihr Leben zu finanzieren, drehte sie Werbungen und war Buchmodel für Kitschromane.
In Hollywood brilliert sie seit über 30 Jahren als Charakterdarstellerin in Nebenrollen in Filmen wie “Der Duft der Frauen”, “Zeit der Unschuld”, “In & Out” und “Rendezvous mit Joe Black”. Größere Rollen kamen mit "About Schmidt" und “Nebraska”.
“Thelma” ist ihre erste Titelrolle. Die sehr witzige Schauspielerin hat damit Riesenchancen auf den Oscar. Und feierte kürzlich ihren 95. Geburtstag mit Pomp und Hollywoodglamour.
Wie war es, mit über 90 die erste Hauptrolle zu bekommen? Mussten Sie überredet werden?
June Squibb: Ich habe jemanden, der all meine Drehbücher liest. Sie rief mich an und sagte: „June, du musst diesen Film machen.“ Es war also irgendwie so, dass ich schon voll dabei war, bevor er mich überhaupt gefragt hatte. Ich war bereit, und wollte es tun. Als mich Regisseur Josh Margolin dann anrief, dachte er, er müsste mich noch überzeugen. Stattdessen sagte er „Hallo“ und ich sagte: „Ich mache den Film.“
Was haben Sie durch diese Rolle gelernt und über sich selbst entdeckt?
Ich hörte über die echte Thelma und dass sie 103 Jahre alt war und immer noch ein erfülltes Leben führte. Und ich dachte, oh mein Gott, ich bin ein Kind. Neunzig ist nichts. Ich meine, wenn du 103 oder 104 erreichst, dann redest du von Alter! Dazu kam auch, dass ich viel über Joshs tatsächliche Großmutter gelernt habe, weil er mir viel über sie erzählt hat. Ich habe Filme von ihr gesehen, die er gemacht hatte, bevor ich den Film drehte. Und ich schätze, es hat mir eine Lektion in Hartnäckigkeit erteilt, einfach zu sagen, das ist etwas, das ich tun will, und auch tun werde.
Was hat Ihnen am meisten Spaß gemacht beim Dreh?
Die Szene auf dem Roller. Mit diesem Roller zu fahren, hat mehr Spaß gemacht als alles andere. Das war großartig. Ich habe es geliebt. Schon beim Drehbuchlesen dachte ich: Oh, das wird lustig. Und so war es auch.
Haben Sie bestimmte Momente, die Sie als Wendepunkte in Ihrer Karriere sehen? Vielleicht „Nebraska“?
Ich erinnere mich sehr gut an „Nebraska“. Es war das erste Mal, dass ich all diese wunderbaren Presseleute getroffen habe. Vorher hat sich die Presse für mich weniger interessiert. Und ich erinnere mich an das erste, was ich je gemacht habe, es war Woody Allens „Alice“ in New York City. Ich war noch nie zuvor auf einem Filmset gewesen. Ich glaube, ich hatte nicht einmal „Law and Order“ gemacht. Und jeder in New York macht „Law and Order“. Ich ging also auf dieses Set und alles, was ich sah, waren Kabel. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte Angst zu stolpern. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Ich meine, sie hoben mich praktisch hoch und drüber. Ich war wie gelähmt. Ich hatte Theater gemacht, und die Kabel lagen da nicht überall auf dem Boden rum. Es war also ein großer Schock für mich, dass man mit all dem zurechtkommen muss, nur um vor einer Kamera zu stehen. Aber es war mein erster Film, und es war großartig.
Leider gibt es nicht so viele Filme, die sich um ältere Frauen drehen. Waren Sie in Hollywood von Altersdiskriminierung betroffen?
Ich glaube nicht, dass das Alter daran schuld war, weil ich ja mit den Filmen erst in meinen 60ern angefangen habe. Durchs Theater war ich schon in einem Alter, in dem ich wohl keine Sorgen mehr hatte, wie „Oh, bin ich zu alt?“ Ich war schon alt, da hat es nicht viel Unterschied gemacht. Aber ja, ich denke, es gibt eine Veränderung. Wenn man sich jetzt die Filme anschaut und die Frauen, die vielleicht heuer für Preise nominiert werden, die Hauptdarstellerinnen sind in ihren 50ern, 60ern. Sie sind so gut. Sie sind so schön. Und sie haben sich so gut gehalten. Es ist so wunderbar, dass das Alter scheinbar die Schauspieler nicht mehr aufhält. Aber ich kann ehrlich gesagt nicht behaupten, dass ich es selbst gespürt habe. Ich war immer eine Charakterdarstellerin. Ich habe nie wirklich eine Hauptrolle gespielt oder das, was wir als Hauptdarstellerin verstehen, und ich war sicherlich nie ein Jungstar. Aber ich merke, dass die Leute jetzt Interesse am Alter haben, dass das Alter nicht mehr so beängstigende ist.
Was sind die Vorteile des Älterwerdens?
Ich bin mental besser. Ich mache Sudoku, ich mache Kreuzworträtsel, ich löse jedes Rätsel, das ich in die Hände bekommen kann. Ich lese ständig. Und ich glaube, dass ich ein besseres Verständnis für das habe, was ich lese, als ich es je hatte, als ich jünger war. Ich weiß nicht, ob es einfach daran liegt, dass ich mir jetzt mehr Zeit nehme, was ich früher wahrscheinlich nicht gemacht habe, aber sicherlich sind Dinge, die deinen Verstand fordern, für mich jetzt eine Freude. Und ich liebe es mich auszuruhen. Ich hätte nie gedacht, dass ich das in meinem ganzen Leben mal sagen würde. Ich war immer der Typ, der früh aufsteht, nach etwas strebt, nach dem Motto lebt, dass du alles, was du willst, erreichen kannst. Und jetzt liebe ich es einfach, zu ruhen, zu sitzen, zu entspannen, fernzuschauen, eine Pause zu machen.
Woran müssen Sie sich gewöhnen, was müssen Sie lernen, das Sie früher nie gebraucht haben?
Es hat wahrscheinlich lange gedauert, bis ich mit den Dingen Schritt gehalten habe. Ich bin zwar gut mit meinem Handy, aber ich habe nie wirklich einen Computer benützt. Ich besitze ein iPad. Ich habe mich im Laufe meines Lebens enorm verändert, und es überraschen mich jetzt Dinge jetzt, an die ich als junger Mensch nie gedacht hätte. Sie überraschen mich. Und manchmal erschrecken sie mich.
In welchen Momenten merken Sie, dass Sie viel erlebt haben?
Ich erinnere mich an den Zweiten Weltkrieg. Und ich glaube, weil ich mich daran erinnere, verstehe ich das Leben, das ich geführt habe, wie lange mein Leben gewesen ist und alles, was passiert ist und wieviel ich erlebt habe. Im Grunde ist die heutige June Squibb die kleine June Squibb, die in Illinois aufgewachsen ist. Sie ist eine Frau aus dem amerikanischen Mittelwesten, und all die Dinge, die wir als typisch für den Mittelwesten ansehen, verkörpere ich auch. Was mir schon als junger Mensch wichtig war, ist eine gewisse Moral. Immer darauf zu achten, dass niemand verletzt wird.
Kommentare