Die Oscarpreisträgerin Julianne Moore wurde Schauspielerin, weil sie als Tochter eines Armee-Generals ihre gesamte Kindheit und Jugend von einem militärischen Standort zum nächsten umzog, neue Schulen besuchte und neue Freunde finden musste. Das nomadische Leben führte zu einer Flucht in die Fantasie. Die Schauspielschule der Universität Boston war ihre Rettung.
Julianne Moore, geboren als Julie Smith, 62, hat zweifellos eine der besten Karrieren in der Filmindustrie, und die Fähigkeit, in jeder Rolle die Menschlichkeit ihrer Charaktere zu finden. Das war besonders wichtig für ihren neuesten Film, „May December“, in dem sie Gracie spielt, eine Lehrerin, die sich mit einem Minderjährigen einlässt, dafür ins Gefängnis geht, ihn aber danach heiratet und eine Familie gründet. Der Film basiert auf der wahren Geschichte von Mary Kay Letourneau. Natalie Portman ist Elizabeth, eine Schauspielerin, die Moores Figur in einem Film darstellen soll und dafür bei der Familie einzieht, um sich vorzubereiten.
KURIER: Die wahre Geschichte hinter dem Film wurde von den Medien monatelang aufgeblasen. Finden Sie das ungerecht, wenn man den Vergleich bedenkt: Lehrer mittleren Alters lässt sich mit Schülerin ein? Würden wir darüber auch so viel hören? Oder werden Frauen auch von den Medien anders behandelt als Männer?
Julianne Moore: Ganz sicher, und dabei sind Frauen ja keine Minderheit, wir machen 50 % der Weltbevölkerung aus, also wäre es endlich angebracht, dass wir auch so behandelt werden.
Die Beziehung zwischen Ihnen und Natalie Portman ist ungewöhnlich, war das ein Grund, warum Sie den Film machen wollten?
Ja, denn wir sehen im Kino sehr selten so eine enge Beziehung zwischen zwei Frauen, die nicht Mutter-Tochter oder eine Liebesbeziehung ist. Hier wird eine Beziehung gezeigt, die extrem eng ist, und nicht immer im besten Sinn. Das Drehbuch hatte Stärken, die mir anfangs gar nicht klar waren, weil es sich auf den ersten Blick wie eine sehr simple Story liest. Erst nach und nach wird klar, wie komplex die Geschichte mit den Gefühlen der Protagonisten verwoben ist.
Eine der Thematiken ist der Altersunterschied. Wie schafften Sie es, Gracie mit Sympathie zu spielen?
Die Frage war: Sie macht sich schuldig und wie gehen wir daran heran? Denn Altersunterschied ist eines, aber eine sexuelle Beziehung zwischen einem Erwachsenen und einem Kind ist etwas ganz anderes. Ihr Verstoß gegen die Norm, gegen das Gesetz ist so enorm, dass sie die Schuld mit dem Glauben, dass das Kind ein Mann ist und daher dominanter als sie, rechtfertigt. Wir haben gesellschaftliche Normen und Grenzen, gegen die immer wieder verstoßen wird. Historisch betrachtet und bis heute. Gracie ist nicht die Einzige, die diese Regeln überschreitet, alle anderen im Film machen es auch, jeder auf seine Art. Was diese Story so gefährlich macht, ist, dass der Zuschauer nicht weiß, wo die Grenzen der Charaktere liegen.
Was ist hier die tiefere Message für Sie?
Viele von Todd Haynes’ Filmen beschäftigen sich mit Identität; wie wir uns präsentieren, aber nicht, wie wir in Wirklichkeit sind. Gracie lebt in der Dualität zwischen ihrer Rolle als Frau, als Mutter, ihrer eigenen Kindlichkeit und dem, was ihr ihr Leben lang eingetrichtert wurde.
Sie gelten als furchtlose Schauspielerin, die – ganz unamerikanisch – keine Panik vor Nacktszenen hat ...
Panik habe ich schon, aber ich habe längst erkannt, dass es oft ganz natürlich ist, und es absolut gekünstelt wäre, wenn man sich nicht auszieht. So auf die Art der Filme und TV-Serien der 50er- und 60er-Jahre, in denen Ehepaare immer in getrennten Betten schliefen, und sie voll geschminkt und auftoupiert aufwachte. Der Regisseur Atom Egoyan, mit dem ich „Chloe“ drehte, meinte: „Das machen die Menschen in solchen Situationen.“ Es ist nicht ausbeuterisch, sondern ganz natürlich. Wobei natürlich niemand so Sex hat, wie man ihn auf der Leinwand sieht. Man tut’s nicht oft am Fußboden oder gegen eine Hauswand und meistens hat man keine sexy Unterwäsche an. Und ich würde einen Mann killen, wenn er mir je die Kleider vom Leib reißt und sie beschädigt!
Wie hat sich Ihre Einstellung zum Schauspiel über die Jahre verändert?
Meine Einstellung hat sich nicht verändert. Aber mein Interesse ist heute viel tiefer gehend als zu Beginn. Mein Beruf fordert und fasziniert mich, und bringt mir so viel Freude. Je länger ich ihn mache, desto mehr interessieren mich die feinen Nuancen meiner Charaktere. Je komplizierter, desto realer. Ich habe die Leidenschaft nie verloren.
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