Wie viel Fiktion ist das, was wir Familie nennen, also?
Es gibt da eine Wahrheit, die nicht faktisch ist. Es gibt Anekdoten, die jeder kennt, die aber nie so stattgefunden haben können. Aber die haben einen Zweck für die Familie. Die braucht man für den Zusammenhalt, da ist es auch schädlich, wenn man die auflöst.
Als Kind hat man aber das Gefühl, dass sich alles um einen selbst dreht – und ist dann vielleicht enttäuscht, wenn es doch nicht so ist. Wie die Mutter in Ihrem Roman, die ja sehr auf ihrem eigenen Leben beharrt.
Ja, und ich finde das sehr positiv. Warum ist meine Erwartung als Kind, dass meine Mutter keinerlei sonstige Interesse hat? Wie kommt man eigentlich dazu, das zu verlangen? Der Vater hat ja auch sein Leben außerhalb der Familie. Hanna eignet sich eben nicht dafür, ausschließlich dafür zuständig zu sein, dass alle von ihr genährt werden, im Seelischen wie im Körperlichen. Die kann das irgendwie, aber es ist nicht ihr Haupttalent, sie hat mehrere Talente. Dem Mann wird es gestattet und der Frau nicht. Sie ist eingezwängt in Konventionen.
Hanna bricht dann aus, verlässt die Familie und lässt die jüngste Tochter zurück. Das kränkt diese sehr.
Dieser Moment, diese Frage wird zum springenden Punkt im Leben der Erzählerin: Ist Hanna abgehauen und hat sie zurückgelassen? Oder wollte sie nicht mitkommen? Sie ist sich nicht sicher. Und auch sonst kann sich niemand erinnern. Sie hat nicht daran gedacht, ihre Eltern zu fragen, als diese noch lebten. Und in der Familie kursieren mehrere Versionen, weil auch in einer Familie Menschen Politik machen und und sich Storys ausdenken, um eigenes Versagen oder eigene Verletzungen zu übertünchen.
Etwas, das ja gern und oft über Generationen weitergegeben wird.
Das ist eine Familie, die kommt komplett aus dem Nachkriegserlebnis. Die Eltern waren in den 50er, 60ern frei und lebenslustig. Aber sie hatten ausschließlich mit Erwachsenen zu tun, die sie angelogen haben. Das geht gar nicht anders. Zehn, zwanzig Jahre davor war diese Riesenkatastrophe gewesen. Diese Menschen kamen aus einem Gesamttrauma – und hatten es so schwierig mit dem Elternsein wie eigentlich keine Generation zuvor und danach. Wer waren deren Vorbilder? Die waren völlig auf sich allein gestellt, haben den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder geschafft. Und sind Eltern geworden
Und Sie sind jetzt auch Autorin geworden. Wie kam es zu dem Romandebüt?
Ich habe immer schon so für mich selber geschrieben, hatte aber nie die Zeit und auch nicht die Disziplin, etwas Längeres daraus zu machen. Als die Pandemie anfing, war mein eigentlicher Beruf zu 100 Prozent weg. Für mich war das eine ganz schön lange Zeit. Ich dachte: Wenn ich jemals einen Roman schreibe, dann jetzt. In so eine Situation komme ich nie wieder.
Hoffentlich!
Ja, hoffentlich. Das eigentliche Schreiben war dann ein kürzerer Prozess. Ich hatte schon viel recherchiert, auch über meinen Großvater im Zweiten Weltkrieg. Ich will zeigen, was dessen Folgen für grauenhafte Auswirkungen haben, bis heute. Jeder, der jetzt Krieg führt, muss wissen, dass das auch in 70 Jahren noch nicht wieder gut ist. Und wie für jemanden in seinem Inneren das ganze Leben, die ganze Kindheit, die Kindheit der Eltern – alles Konstrukte, auf denen man bisher sein Erwachsenenleben errichtet hat – zusammenfallen und wieder aufgebaut werden. In der Außenwelt passiert in dem Roman fast nichts, das ist alles im Inneren.
Ein pandemischer Gedanke. Wie finden Sie denn wurde damals mit der Kunst umgegangen?
Leider nicht so gut, um ehrlich zu sein. Viele Menschen finden seither, es geht auch ohne Kultur, das brauchen wir doch alles gar nicht, sparen wir doch bei der Kultur. Wie bekommen wir diesen Gedanken wieder aus der Welt? Es sind so viele Dinge in Unordnung geraten. Ich weiß nicht, was die Theater damals hätten besser machen können. Vielleicht haben die zu defensiv gedacht.
Es soll ja eine nicht kleine Rolle bei der Nichtverlängerung von Martin Kusej gespielt haben, dass er das Burgtheater eben nicht präsent gehalten hat.
Das war nicht nur am Burgtheater so! Vielleicht hätte man in allen Sprechtheaterbühnen jeden Tag eine Online-Lesung machen sollen, auch wenn sich das nur 50 Menschen anschauen. Damit das Theater sichtbar bleibt und nicht einfach so verschwindet. Jetzt muss man wahnsinnig hinterherackern, um wieder erkenntlich zu machen, dass es existiert und dass es einen Sinn hat – und auch die Freude zu sehen, die Theater macht.
Eine große Aufgabe für Stefan Bachmann.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass ihm das gelingt. Ich habe große Lust mitzuhelfen, dass das Theater wieder in die Mitte der Gesellschaft rückt. Das ist ja das Tolle in Wien, dass das nicht irgendwo am Rand stattfindet.
Wobei gerade die Mitte derzeit eine Definitionsherausforderung ist. Viele sogenannte Maßnahmenkritiker und vor allem FPÖ-Wähler fühlen sich vom Bühnengeschehen und den Schauspielerinnen und Schauspielern nicht abgeholt.
Vielleicht ist der Gedanke des Abholens falsch? Jeder will abgeholt werden und jeder will recht haben. Das geht einfach nicht. Eigentlich müssen alle dahin kommen, um miteinander zu diskutieren und sich zu streiten. In einem Moment, in dem eine Demokratie so kaputt geht, brauchen wir diese Fähigkeit, Kompromisse zu finden, durch Diskussionen zueinander zu finden. Die Idee des Theaters wäre ja im besten Falle, dass sich die Menschen danach im Foyer unterhalten oder streiten. Aber jeder will nur dahin gehen, wo er abgeholt wird, und nicht dahin, wo man sowieso dagegen ist. Wir sind alle radikalisiert, jeder für sich in seiner eigenen Richtung. Ich weiß nicht, wie wir da wieder rauskommen sollen. Deeskalation gilt als uncool. Dabei ist das die einzige Lösung: Kompromisse von allen Seiten. Ach, das klingt alles so negativ.
Vielleicht zum Abschluss etwas Schönes: Wie geht es Ihrem Postkartenverlag?
Ja, das ist wirklich etwas Schönes! Wir erinnern daran, dass man Postkarten schreibt, 1869 wurde die erste versendet – in Wien! Postkarten schreibt man nicht aus Hass, sondern aus wahrer Liebe.
Vielleicht sollten wir also alle einander Postkarten schreiben statt zu streiten?
Ja, wenn es nur so einfach wäre.
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