Im großen Ganzen
Endlose Autofahrten seiner Protagonistin, der Produktionsassistentin Angela (großartig: Ilinca Manolache) wechseln sich ab mit Ausschnitten aus dem subversiven, Ceausescu-kritischen Film „Angela Merge Mai Departe“ aus dem Jahr 1982 und TikTok-Videos, in denen Angela zu ihrem Alter Ego Bobitsa, einem vulgären Macho, mutiert. Dann wären da noch die Handyvideos, die Angela für eine deutsche Ausbeuterfirma mit rumänischen Opfern von Arbeitsunfällen dreht. Skurril? Und wie!
„Ich versuche immer, die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen“, sagt Radu Jude beim Gespräch im Intercontinental, erhebt sich aus seinem Sessel und geht zum Fenster des Zimmers. „Du kannst hier über die Wiener Innenstadt schauen oder auf diesen Eislaufplatz.“ Er zeigt hinunter auf den Eislaufverein. „Irgendwie wirkt dieser kleine Platz in dem ganzen Ensemble an historisch aufgeladenen Bauten lächerlich. Vor allem im Oktober, wo eigentlich keiner Eis läuft. Was ich damit sagen will: Man muss alles immer im Zusammenhang, im großen Ganzen betrachten.“
Plötzlich Teil der EU
Auch sein Film sei ein Gebilde, das man von verschiedenen Seiten sehen kann. „Einerseits ist er für mich eine simple Beschreibung des Lebens verschiedener Menschen in Rumänien. Ihrer Probleme in privaten und beruflichen Bereichen eines post-totalitären Landes, das plötzlich Teil der EU ist. Plötzlich finden sich die Menschen in einem neuen wirtschaftlichen und politischen Kontext wieder und verfangen sich in diesem Netz. Wenn man den Film aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, sieht man, dass einfach bestimmte Dinge im Alltag in unserem Land nicht funktionieren. Das Verkehrschaos, der Geldmangel, die fehlende soziale Absicherung. Kino kann dafür benutzt werden, Dinge aufzuzeigen, die nicht gut laufen. Das Aufzeigen ist wie eine Therapie, eine Medizin.“
Das Unternehmen in Judes Film, das den rumänischen Opfern von Arbeitsunfällen 500 Euro verspricht, wenn sie die Unfälle schildern und danach extra auf die „umsichtigen Schutzmaßnahmen“ ihres Arbeitgebers hinweisen, ist ein österreichisches und es kommt nicht gut weg. Sicher kein Zufall, oder? „Nun, ich habe nichts gegen Österreich. Ich komme gerne hierher, ich mag Wien und liebe Thomas Bernhard. Er ist mein Held. Aber dann gibt es auch Unternehmen, die die Wälder abholzen und zerstören. Die können das in einem EU-Land natürlich nur machen, wenn sie auf ein Gegenüber, sprich: auf eine rumänische Behörde treffen, die das erlaubt. Die korrupt ist. Sonst wäre das ja nicht möglich.“
Wie er auf die Idee gekommen ist, TikTok-Videos in seinen Film zu platzieren? Radu Jude greift zu seinem Handy, zeigt mit Begeisterung einige Videos seiner Sammlung her. Tanzende Teenies, Männer, die der Frau am Bügelbrett auf den Po klatschen und Frauen mit wippenden Brüsten sind zu sehen. „Für mich ist TikTok so etwas wie die Umgangssprache, der rohe Dialekt von Kino. Jeder kann seinen Film, kann Dinge sichtbar machen, die sonst nie zu sehen wären. Ein großartiges Tool!“
Zores mit dem Namen
Dann erzählt er noch von den wiederkehrenden Zores mit seinem Namen. In einer rumänischen Zeitung war anlässlich des Berlinale-Preises sein Porträt mit einem Judenstern versehen. „Sie wollten damit sagen: Seht her, dieser Typ hat für seinen Pornofilm eine Auszeichnung bekommen! Das war schrecklich antisemitisch. Dabei bin ich gar kein Jude, auch wenn ich so heiße“.
Und er erzählt von seinem nächsten Projekt: „Eine Art Dracula-Film, auf meine Art. Er wird anders sein als die bisherigen Dracula-Filme, mit vielen kleinen Geschichten und vielen Charakteren.“ Das Script habe er bereits fertig und ein Teil der Finanzierung stehe auch schon. Lang werde der Film werden, ergänzt er.
Auch „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ ist mit zweidreiviertel Stunden eher episch. Warum? Radu Jude muss lachen. „Was soll ich sagen?“, meint er entwaffnend ehrlich, „ich wusste einfach nicht, wie ich ihn kürzen sollte.“
Der Film läuft Anfang 2024 in den Kinos an.
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