Rothko: Der Geist sehnt sich nach Größerem
Christopher Rothko (55) verwaltet gemeinsam mit seiner Schwester Kate den Nachlass seines Vaters, des US-Künstlers Mark Rothko (1903 – 1970). Aus Anlass der aktuellen Rothko-Schau im Wiener KHM, die zahlreiche Werke aus dem Besitz der Geschwister zeigt, erschien sein eigenes Buch über das Werk des Vaters auf Deutsch.
KURIER: In Ihrem Buch vergleichen Sie Mark Rothkos Kunst oft mit einer Sprache, die erlernbar ist. Das überrascht insofern, als die Gemälde dort zu wirken beginnen, wo die Sprache endet.
Christopher Rothko: Ich stimme Ihnen zu, dass die Bilder nicht in einer verbalen Art funktionieren – sie sind eher der Musik ähnlich, auf die mein Vater selbst des Öfteren verwiesen hat. Ihn faszinierte, dass uns Musik auf eine Weise berührt, die wir nicht vollständig verstehen und quantifizieren können. Wenn ich von Rothkos Kunst als einer Sprache schreibe, meine ich eher ein künstlerisches Vokabular, das ihm erlaubt, mit den Betrachtern auf diese Weise zu kommunizieren. Es geht ihm immer um eine Konversation, die Bilder sind für ihn ohne den Betrachter nicht vollständig.
Ihr Buch ist weniger eine Interpretation von Rothkos Werk als eine Sammlung möglicher Zugänge dazu. Was hat Sie motiviert, es zu schreiben?
Ich habe immer gern geschrieben – und eines Tages hatte ich so etwas wie eine Offenbarung. Ich konnte nicht schlafen, ging in die Küche, und plötzlich hatte ich den Drang, Ideen niederzuschreiben. Ich holte ein altes Kuvert aus dem Mistkübel und schrieb in weniger als einer Minute die Titel aller Kapitel im Buch nieder. Es geht um Themen, über die ich in all den Jahren, in denen ich mit den Bildern meines Vaters arbeitete, nachgedacht hatte.
Hängen in Ihrer Wohnung Rothko-Werke oder halten Sie sie aus dem Privatbereich fern?
Ich habe das Glück, mit Rothko-Bildern leben zu können. Zwei Jahrzehnte lang hatten meine Schwester und ich keinen Zugang dazu, aufgrund erbitterter Rechtsstreitigkeiten um den Nachlass. Diese wurden in der bestmöglichen Weise gelöst. Sehr viele Werke hängen nun in öffentlichen Sammlungen, vor allem der National Gallery in Washington. Wir haben zudem eine Sammlung, die wir sehr aktiv verleihen. Aber einige Bilder hängen in unserem eigenen Zuhause.
Im Zusammenhang mit Rothko ist oft zu lesen, dass sein Zugang zur Kunst quasi religiös war. Ist diese Analogie korrekt?
Auf der einen Seite denke ich, dass mein Vater gezögert hätte, dieses Wort in den Mund zu nehmen. Andererseits sagte er bei der Eröffnung seiner großen Retrospektive im MoMA 1961: „Wenn die Menschen nach sakralen Erfahrungen suchen, werden sie sie hier finden. Wenn sie nach profanen Erfahrungen suchen, werden sie auch diese finden.“ Ich denke, der religiöse Aspekt ergibt sich aus dem kontemplativen Geist, der diese Bilder umgibt. Sie scheinen zu suggerieren, dass es jenseits von uns selbst etwas Größeres gibt – ob man das humanistisch oder eher spirituell deutet, hängt von der jeweiligen Person ab. Ich glaube aber, es war kein Zufall, dass die letzte größte Auftragsarbeit meines Vaters die Rothko Chapel war, eine katholische Kapelle in Houston, Texas.
Die spirituelle Aura von Rothkos Kunst kommt manchen auch allzu hochtrabend daher.
Ich glaube, es ist kein Zufall, dass der Abstrakte Expressionismus von der Pop Art abgelöst wurde, die ja eine Reaktion auf genau diese Attitüde war. Doch bereits in den 1970ern und ’80ern versuchten Künstler mit Minimal Art, Land Art oder Installationen wieder, tief greifende Erlebnisse herzustellen, die darauf verweisen, dass es hinter dem Kunstwerk selbst noch etwas anderes geben muss. Ich verstehe, wenn Besucher nach der Ausstellung im KHM ein Gebäck und einen Kaffee brauchen, denn die Kunst ist ganz schön intensiv! Ich glaube, dass mein Vater sich dessen bewusst war. Doch er sagte: Wir müssen unseren Alltag manchmal verlassen und über die großen Fragen nachdenken.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass in den Bildern die menschliche Wärme Ihres Vaters zum Vorschein kommt. Welche Erinnerungen haben Sie selbst daran?
Ich war erst sechs Jahre alt, als er starb, habe aber einige Erinnerungen. Am klarsten erinnere ich mich an seine Stimme. Er war ein ziemlich großer Mann, und seine Stimme war sehr warm und rund. Die Erinnerung daran bringt mir seine physische Präsenz zurück.
Wann entschieden Sie sich dafür, ihr Berufsleben ganz dem Rothko-Nachlass zu widmen?
Wenn ich eine bewusste Entscheidung getroffen hätte, hätte ich es nie gemacht! Ich hatte bereits eine Karriere als Psychologe, und bis in die späten 80er Jahre managte meine Schwester den Großteil der Interaktion mit Museen und Ausstellungshäusern. Doch sie ist auch Ärztin und dreifache Mutter, und eines Tages fragte ich sie, ob ich die Arbeit für eine Weile übernehmen sollte. Zuerst lehnte sie ab, doch dann sagte sie: „Vielleicht nur ein bisschen.“ Wir treffen noch immer die wichtigen Entscheidungen gemeinsam. Aber der Kontakt mit der Außenwelt ist nun großteils mein Job.
Gemälde von Mark Rothko gehören heute zu den teuersten Kunstwerken der Welt. Glauben Sie, dass Menschen sie daher anders betrachten?
Ich hoffe nicht! Aber ich weiß natürlich, dass die meisten Menschen, die in eine Rothko-Ausstellung gehen, eine Ahnung von den Preis-Niveaus haben. Ich hoffe, das hindert sie nicht daran, diese Bilder als Werke eines Mannes zu sehen, der zwar von der Kunst leben wollte, das aber erst relativ spät in seiner Karriere wirklich geschafft hat. Er malte, weil er mit den Betrachtern kommunizieren wollte. Ein Preisschild wird dem Verständnis nicht helfen. Natürlich ist das für uns ein Luxusproblem. Aber wir sehen unsere Aufgabe darin, das Werk zu präsentieren. Wie viele wichtige Museen Rothkos an ihren Wänden haben und wie viele Ausstellungen von wie vielen Menschen gesehen werden – das ist uns als Erfolgskriterium wichtiger als die Preise, die die Bilder erzielen.
Rothko: Der "Dramaturg der Form"
Die Mark-Rothko-Schau im Kunsthistorischen Museum Wien läuft noch bis 30. Juni. Sie zeigt die Entwicklung des Malers, der die Kunst der Antike und der Alten Meister zeitlebens intensiv studierte, vom figurativen Frühwerk bis zu den großen, abstrakten Farbflächen späterer Jahre.
Christopher Rothko setzt sich im Katalog der KHM-Schau (Hatje Cantz Verlag, 184 S., 39,10 €) mit dem „Echo der Geschichte“ in Rothkos Werk auseinander. In seinem eigenen Buch „Mark Rothko – Dramaturg der Form“ (Piet Meyer Verlag, 384 S., 29,20 €) befasst sich Rothko junior in einzelnen, auch für Nicht-Fachleute gut lesbaren Essays mit verschiedenen Aspekten wie der Musik, der Proportion oder dem Humor im Werk des Künstlers . Christopher Rothko gab auch jene theoretischen Schriften zur Kunst, die Mark Rothko in den 1940er Jahren selbst verfasste, als Buch heraus: Es heißt „Die Wirklichkeit des Künstlers“ (C.H. Beck Verlag, 239 S., 25,70 €).
Mit einem Preis von 86,8 Mio US-$ (damals umgerechnet 66,9 Millionen Euro) bei einer Christie’s-Auktion war Rothkos „Orange, Green Yellow“ (1961) im Mai 2012 kurzzeitig das teuerste zeitgenössische Kunstwerk der Welt. Am 16. Mai 2019 versteigert nun Sotheby’s in New York das Gemälde „Untitled“ (1960, oben) mit einem Schätzwert zwischen 35 und 50 Millionen US-$. Das Bild stammt aus dem Museum Moderner Kunst in San Francisco (SFMoMA), das mit dem Erlös seine Sammlung anderweitig ausbauen will.
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