Rolling Stones begeistern Wien: Der Mick und seine Hawara

Rolling Stones begeistern Wien: Der Mick und seine Hawara
Statt eines Gleitpensionskonzerts gibt es den wahrscheinlich besten Österreich-Auftritt der Band im 61. Bestandsjahr.

Meist  ist das Leben genau so, wie erwartet: Auf Dienstag folgt Mittwoch, auf die „ZIB1“ das Wetter, auf Stelze Sodbrand.

Aber manchmal gibt es dann doch Überraschungen, und die machen das Leben interessant.

Zum Beispiel Freitag Abend im Wiener Ernst-Happel-Stadion. 56.000 Zuschauer rechnen mit einem gemütlichen Gleitpensionskonzert von hart auf die 80 zugehenden Herren, die bei horrenden Ticket- und T-Shirtpreisen noch einmal mit einer Dienst-nach-Vorschrift-Hitshow  den Kontostand optimieren wollen, bevor sie in der Hotelsuite die Füße in heißes Wasser stellen und im Kabelfernsehen bei einer Cricketübertragung den Tag stressfrei ausklingen lassen.

Und dann das:

Rolling Stones begeistern Wien: Der Mick und seine Hawara

Ältere Arbeitnehmer vor!

Die Rolling Stones drängeln sich um 20.48 Uhr auf die bemerkenswert hässliche, in orange-rot gehaltene, das Zungen-Logo zitierende Bühne – und lassen nicht weniger als das lauteste, am präzisesten gespielte und mit hoher Wahrscheinlichkeit beste  Österreich-Konzert ihrer Karriere von der Leine. Und das in ihrem 61. Jahr im Büro!

16 Mal hatte die Band bis dato  hier gespielt, und da war alles darunter, vom desaströsen (1982) bis zum inspirierten (1998) Auftritt – aber so viel Wut, Dringlichkeit und pure Freude an  der Arbeit hatten sie tatsächlich noch nie gezeigt. Man könnte das als Mahnung an alle Personalchefs dieser Welt verstehen: Unterschätzt nicht den  Wert älterer Arbeitnehmer!

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Straßenkampf?

Es beginnt gleich mit einer klaren Ansage: „Street Fighting Man“ ist ihr politischster Song, zugleich ihr resignativster: In den Straßen hört man die Schritte der Demonstranten – aber was kann ein armer Junge schon tun, außer in einer Rock ’n’ Roll-Band zu singen? Der Song kommt mit einer Heftigkeit, die  man den Stones gar nicht zugetraut hätte. Das Publikum ist kurz verblüfft und geht dann geordnet zum großen Jubel über.

Es folgen „Let’s Spend The Night Together“ und „Tumbling Dice“, wild und doch klar gespielt, als Überraschung gibt es Bob Dylans „Like A Rolling Stone“, auf Fan-Wunsch „Wild Horses“. „Out Of Time“ wurde vor dieses Tour noch nie gespielt, die Version hat Kraft und Soul und darf nach einem Fake-Ende neu starten.

 

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Die  Lockdown-Hymne  „Living In A Ghost Town“, der einzige halbwegs aktuelle Song, ist ein erster Höhepunkt: Grimmig  dröhnen die Akkorde im Reggae-Groove, Mick Jagger heult auf dem Laufsteg den Mond an, während das Stadion die „Oh-oh-ohoh“-Chöre übernimmt.

Opa und Enkel zugleich

Bei „Paint It Black“ lässt Keith Richards die Gitarre weinen und brüllen, „Honky Tonk Woman“ rollt hart durchs zwischenmenschliche Unterholz, bevor Mick Jagger seinen „Hawara Keith Richards on vocals and guitar“ ankündigt.

Richards sieht mittlerweile aus wie sein eigener Urgroßvater und gleichzeitig wie sein eigener Urgroßenkel – ein 78 Jahre altes Kind, das mit Neugier schaut, was es mit seinem Spielzeug anstellen kann. Und es kann viel: „Slipping Away“ hat Gefühl und Herz, „Happy“ die Lebensfreude.

Keith Richards sägt nicht mehr, wie früher, stur seine Riffs durch die Melodien, sondern er wuchtet Akkord-Brocken in den Raum, an denen sich seine Mitmusiker abarbeiten dürfen, indem sie mit Hammer und Meißel songähnliche Formen aus ihnen hauen. Wo er früher über die Bühne gehüpft ist, praktiziert er jetzt rhythmisches Stehen, aber er ist klar das Herz dieser Darbietung.

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Schlittenhund

Sein Gitarren-Geschäftspartner Ronnie Wood kann immer noch so spielen, als hätte er dreckige Hände, und dabei erstaunt und glücklich dreinschauen wie ein Schlittenhund beim ersten Schnee.

Dass sich hier inzwischen niemand mehr Alkohol oder harte Drogen in den Körper schiebt, wirkt sich auf das Spiel höchst positiv aus. Aber auch die neue Rhythmusgruppe bewährt sich: Steve Jordan, der den verstorbenen, großen Charlie Watts ersetzt, und Darryl Jones grooven wie tänzelnde Straßenwalzen.

 

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My diät is kaputt

Mick Jagger aber ist der Mittelpunkt. Er tanzt immer noch wie eine Mischung aus Rumpelstilz, Nurejew nach einem Kerosin-Einlauf und verhaltensauffälligem Kind – und singt dabei klar und kräftig.

Außerdem unterhält er das Publikum prächtig auf Deutsch, mit einer Geschichte über das gewichtsgefährdende Essen im Schweizerhaus und einen Besuch „at the Würstelstand“: „I had several Ottakringers, my diät is kaputt!“

Am Ende kommen die ganz großen Hits wie „Start Me Up“ und „Jumping Jack Flash“, Keith Richards greift weder bei „Sympathy For The Devil“, noch bei „Gimme Shelter“ in den Gatsch. Und bei „You Can’t Always Get What You Want“ darf ein ukrainischer Kinderchor auf die Bühne.

Das kann ein armer Junge tun: Rock ’n’ Roll singen – und die richtigen Zeichen setzen.

Was für ein Abend.

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