Rock-Roman: Familienaufstellung mit Iggy Pop

Rock-Roman: Familienaufstellung mit Iggy Pop
Sex, Drugs und eine Handvoll Lebensläufe: Jennifer Egans Roman erzählt von der Eile des Schicksals im Rock-Business.

Reden wir über gute erste Sätze: "Es fing an wie üblich auf der Damentoilette des Lassimo-Hotels." Hier ist Sasha, die kleptomanische Protagonistin des ersten Kapitels, sie wird jetzt eine Geldbörse stehlen.

Später wird sie ihrem Chef Bennie eine Dose mit Goldflocken entwenden. Bennie ist Musikproduzent, der Mitte der Nullerjahre Kaffeeschaum mit Goldflocken zu sich nimmt, weil er glaubt, das sei potenzfördernd. Bennie war in den frühen Achtzigern Möchtegern-Punk, später wurde er reich. Dann verließ ihn die Lust auf Sex und mittlerweile auch auf Musik. Dazwischen kokste er, auch das führte zu Toilettengeschichten (Kokain wirkt verdauungsfördernd).

Von 1973 bis 2020 begleitet Jennifer Egans Roman "Der größere Teil der Welt" die kleptomanische Sasha und den potenzsuchenden Musikproduzenten Bennie. (Er wird sie irgendwann wegen ihrer langen Finger feuern.)

Egan erzählt dabei keine geringere Geschichte als jene, wie gnadenlos schnell das Leben vorbeigeht. Du beginnst als Groupie, dazwischen ertrinkt dein Freund im East River, du endest am Stadtrand mit Mann und Kind. Deine Nachbarn sind Republikaner und dein Rockhero von damals ist alt und fett geworden.

Nur Statisten

Rock-Roman: Familienaufstellung mit Iggy Pop

In dieser Geschichte hat jeder mit jedem zu tun. Sie begleitet verschiedene Lebensläufe, die meisten am Rande des Musik-Business. Von L.A. bis New York bis Neapel. Sex, Drugs und Sterben. Die Figuren sind einmal Protagonisten, dann wieder Statisten. Egan lässt sie nach vorne treten, dann wieder auf ihren nächsten Auftritt warten. Sie sind Teenager und haben Oralsex mit dem Plattenboss. Kurz darauf sind sie Mitte vierzig und halten die knorrige Hand des sterbenden Mannes zum letzten Mal.

Zeitsprünge. Gestern waren wir jung und schön. Heute sind wir bettlägrig. Egan seziert das Leben. Ungnädig. Rolphs Schlafanzug ist mit Elfen bedruckt, er ist gerade alt genug, sich dafür ein bisschen zu schämen. Er weiß nicht, dass ihm sein Daddy in ein paar Jahren die Freundin ausspannen wird. Noch während Rolph mit seiner Schwester Charlie tanzt, erzählt Egan, dass er sich mit achtundzwanzig im Haus seines Vaters eine Kugel in den Kopf jagen wird.

Charlie wird sich immer an diesen Moment erinnern, als ihr kleiner Bruder schüchtern tanzen lernte.

Ein Konzeptalbum nennt Egan ihren Roman. Ihre Inspirationsquelle: The Who. Sie wollte ihr Leben lang Roger Daltry heiraten. Der Patron des Buchs aber ist Iggy Pop und sein Song "The Passenger": Ich bin ein Passagier / und ich fahre und ich fahre / ich fahre ans Ende der Stadt.

Und es ist alles so verdammt schnell vorbei. Nostalgisch ist auch die Form des Romans: Konstruiert wie ein Plattenalbum in dreizehn Kapiteln. Mit verschiedenen Sounds und Stimmungen von Frust, Trauer bis Komik. Jedes Kapitel ist im Ton verschieden, doch alles fügt sich zu einem Ganzen. Ein Kapitel ist als Powerpointpräsentation geschrieben: die in Vortragsfolien abgefasste Familienaufstellung einer Zwölfjährigen.

Die 49-jährige Jennifer Egan aus San Francisco schreibt seit 1993 Romane, Erzählungen und Artikel für Magazine wie The New Yorker. Dieses ist ihr fünftes Buch und es wurde gleich nach seinem Erscheinen 2010 mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet, ein Jahr später mit dem Pulitzerpreis.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Tom Bullough - "Die Mechanik des Himmels"

Rock-Roman: Familienaufstellung mit Iggy Pop

Warum schreibt ein 37-jähriger Brite eine Romanbiografie über den vor fast 80 Jahren verstorbenen Erfinder der russischen Raumfahrt? Vielleicht, weil von diesem Konstantin Ziolkowski Sätze wie folgender stammen: "Das Sonnensystem wird unser Kindergarten." Ganz sicher aber deshalb: Zu Besuch bei seinem in Russland lebenden Bruder, entdeckte Tom Bullough im Dutyfreeshop in St. Petersburg eine Wodka-Flasche in Form einer Raumfähre. Da lag ein Roman über die russische Raumfahrt quasi auf der Hand.

Für den pathetischen, beliebigen Titel "Die Mechanik des Himmels" kann Bullough nichts. Im Original heißt das Buch schlicht "Konstantin". Es erzählt die Geschichte von Konstantin (Kostja) Ziolkowski, 1857 im russischen Dorf Ischewskoje geboren. Im Alter von zehn Jahren wurde er durch Scharlach nahezu taub und musste die Schule verlassen. Er bildete sich autodidaktisch weiter und wurde von seiner Familie zum Studium nach Moskau geschickt. Dort studierte er Physik, Astronomie, Mechanik und Geometrie und gilt heute als Begründer der modernen Kosmonautik.

Bullough hat als Journalist, Sägewerksarbeiter und als T-Shirtverkäufer gearbeitet. Dass er auch "creative writing" unterrichtet hat, merkt man dem Roman an: Atmosphärisch (zu) dicht, beschreibt Bullough detailliert das entbehrungsreiche Leben des jungen Kostja, von seiner Mutter "kleiner Vogel" genannt. Das Buch hat Bullough mitunter beim Wandern geschrieben. Da kam er auf Vergleiche wie diesen: Die Sonne dringt zwischen den Bäumen hindurch gleich einem "blutunterlaufenen Auge".

KURIER-Wertung: *** von *****

Zachary Mason - "Die verlorenen Bücher der Odyssee"

Rock-Roman: Familienaufstellung mit Iggy Pop

Odysseus, der postmoderne Abenteurer: "Ich habe mich oft gefragt, ob wohl alle Männer solche Feiglinge sind wie ich einer bin."

"Die verlorenen Bücher der Odyssee" heißt Zachary Masons in den USA bejubelter erster Roman. Es sind Variationen zu Homers Odyssee. Dieselben Ideen und Protagonisten wie im Original. Und doch ist alles anders. Einmal hat Penelope nicht auf Odysseus gewartet und längst einen anderen. In einer weiteren Variante hat sie nicht auf ihn gewartet und ist gestorben.

Odysseus ist kein von den Göttern Auserwählter. Er ist ein Zweifler: "Ich habe keine Begabung für die Kampfkünste." Nachts erscheint ihm sein Doppelgänger, der sein Leben besser kennt als er selbst. Auf die Idee mit dem Trojanischen Pferd kommt er nicht. Auf die mit den Sirenen schon. Um die Unwiderstehlichen zu überlisten, lässt er sich an den Schiffsmast binden, die Mannschaft stopft sich Wachs in die Ohren. Doch Odysseus ist keineswegs stolz auf den Einfall: "Merkwürdig, dass bis dahin noch niemand auf die Idee verfallen war, doch für die abgrundtiefe Blödigkeit der Menschen findet sich einmal nur schwer eine Erklärung", schreibt er lakonisch.

Odysseus ist hier ein sympathischerer Abenteurer als bei Homer und in Hollywood. Er ist ein fehlbarer Mensch.

Der 38-jährige Mason lebt in Kalifornien und ist Computerfachmann. Sein Spezialgebiet ist künstliche Intelligenz. Die Idee, dass Poesie aus irgendwelchen verborgenen Tiefen der Seele kommt, sei nur etwas für Mystiker, sagt er. Er glaubt daran, dass das Schreiben aus dem Kopf kommt, und der sei nicht anderes als ein Computer.

KURIER-Wertung: **** von *****

Ingrid Runggaldier - "Frauen im Aufstieg. Auf Spurensuche in der Alpingeschichte."

Rock-Roman: Familienaufstellung mit Iggy Pop

Die Mutter der Südtiroler Publizistin Ingrid Runggaldier war bei der Bergrettung. Sie leitete die Telefonzentrale. Zwölf Jahre saß sie daheim und wartete auf Anrufe. Selbst kam sie nie in die Berge. "Eine Situation, auf die sich wohl nur eine Frau einlassen konnte", bedauert Runggaldier in ihrem Buch "Frauen im Aufstieg. Auf Spurensuche in der Alpingeschichte."

Doch die Geschichte der Berge ist mitnichten eine reine Männergeschichte. Denn es gab sie, die Abenteurerinnen wie Beatrice Tomasson, die als erste Frau die Marmolada Südwand bewältigte; Fanny Bullock, die sich 1911 auf einer Himalaja-Expedition mit einem "Vote for Women"-Plakat fotografieren ließ; Nea Morin, die mit ihren Gefährtinnen Micheline Morin und Alice Damesme durch die Westalpen schritt. Und die Wiener Alpinistin Mizzi Langer, die 1896 das erste Sportgeschäft Wiens gründete. Das Haus in der Kaiserstraße, in dem sich heute noch ein Sportgeschäft befindet, ist nach ihr benannt.

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