Robert Menasse im Interview: „Die Skandalisierung ist der Skandal“
Der Roman „Die Erweiterung“ ist amüsant zu lesen. Und Robert Menasse ist über so manches amüsiert. Er beschäftigt sich zwar mit der EU, von der heimischen Innenpolitik aber kommt er beim Interview in seiner Schreibstube doch nicht weg.
KURIER: Vor fünf Jahren erschien Ihr Buch „Die Hauptstadt“. Es wurde als der erste Roman über die EU gelobt und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. War das Genugtuung?
Robert Menasse: Genugtuung wofür? Jeder Autor wünscht sich Erfolg und Anerkennung, aber es ist natürlich auch Glücksache. Es gibt erstklassige Literatur von Kollegen, die viel zu wenig rezipiert wird. Ich weiß nie, warum das so ist. Was mich verblüfft hat, war der Stempel „EU-Roman“. Denn das war gar nicht mein Anspruch. Ich will meine Zeitgenossenschaft reflektieren. Pathetisch gesagt: Ich will einen Epochenroman schaffen, nicht einen EU-Roman. Ein Roman ist die Zeit in Erzählung gefasst. Aber kann man den Anspruch erfüllen, wenn man nicht die Rahmenbedingungen unseres Lebens miterzählt? Diese werden eben in Europa zu einem großen Teil durch die EU definiert. Ich ging also nach Brüssel – in den Maschinenraum unserer Realitätsproduktion.
Aber es ging Ihnen schon um mehr als „nur“ einen Epochenroman: Zusammen mit Ulrike Guérot riefen Sie die Republik Europa aus – und traten für einen supranationalen EU-Pass ein.
Ja, für die Idee einer Europäischen Republik habe ich mich mit Essays und Vorträgen engagiert. Das ist die Zukunftsfrage: Bist du ein Verteidiger der Nationalstaaten oder Mitgestalter einer gemeinsamen europäischen Zukunft? Ich bin Europäer, ein Verteidiger der europäischen Idee und der Visionen der Gründergeneration …
Europa ist aber mehr als die EU. Sie sind daher ein scharfer Kritiker …
… der systemischen Widersprüche der EU. Denn sie produzieren mehr Krisen als Lösungen. Das, was wir „die EU“ nennen, ist ein komplexes Gebilde mehrerer Institutionen, die zum Teil in unproduktivem Widerspruch zueinander stehen. Die Kommission zum Beispiel ist für die Entwicklung von Gemeinschaftspolitik zuständig, während der Rat die nationale Souveränität der Mitgliedsstaaten verteidigt. Und das Parlament steht in kritischer Distanz zu beiden. Wenn ich in Boulevardblättern „Unfassbar, die EU will jetzt dieses und jenes“ lese, frage ich mich immer: Wen meinen sie? Meistens setzt man „die EU“ mit der Kommission gleich, aber die letzte Entscheidungsinstanz ist der Rat …
Die EU ist weit weg. Daher können sich die heimischen Politiker auf deren Rücken profilieren?
Zum Beispiel wenn der Innenminister sagt, dass „die EU“ in Hinblick auf die Asyl- und Migrationspolitik nicht funktioniert und man daher eine nationale Lösung finden müsse. Meines Wissens gibt es seit zumindest 25 Jahren Vorschläge der Kommission für eine europäische Asyl- und Migrationspolitik – und ebenso lange gibt es Vetos der Mitgliedsstaaten im Rat, auch von Österreich. Also: Ein österreichischer Politiker verhindert eine Gemeinschaftslösung – und kritisiert dann zu Hause, dass „die EU“ nichts zustande bringt. Das finde ich niederträchtig.
Sie verurteilen daher auch das Veto Österreichs gegen einen Beitritt von Rumänien und Bulgarien zum grenzenlosen Schengenraum?
Das Personal der Kurz-Nachfolgepartei in der Regierung weiß, dass es nur national gewählt wird. Es sendet daher bei europapolitischen Fragen nur Signale aus, die österreichische Wähler erregen. So werden europapolitische Fragen innenpolitisch missbraucht. Ich glaube aber, dass das den ÖVP-Politikern nicht nützen wird. Denn sie bestärken nur die, die schon immer meinten, dass die FPÖ recht hat. Sie sind Kickls nützliche Idioten.
Auch wenn Sie sich über die Innenpolitik erregen können: Das Thema EU lässt Sie nicht los. Nun haben Sie einen zweiten Roman veröffentlicht – „Die Erweiterung“.
Weil Europa mehr ist als die EU.
Er ist der Mittelteil einer Trilogie. Stand das von Anfang an fest?
Die Rahmenbedingungen unseres Lebens haben sich in den letzten Jahrzehnten radikal geändert. Einen gemeinsamen Markt, gemeinsame Währung, grenzenlosen Schengen-Raum – das war für die Lebensentwürfe unserer Großeltern noch unvorstellbar. Als ich begann, mich mit dem Stoff auseinanderzusetzen, wurde mir rasch klar, dass ich meine Epoche nicht in nur einem Roman erzählen kann. Also drei Romane mit drei Schwerpunkten, die miteinander ein Panorama entfalten.
Im Zentrum von „Die Erweiterung“ steht Albanien. Sind Sie tatsächlich die Meinung, dass der Beitritt eines muslimischen Landes kein Problem für die EU wäre? Im Kosovo muss ein serbisch-orthodoxes Kloster aus dem 14. Jahrhundert von KFOR-Soldaten geschützt werden – vor Angriffen der Kosovo-Albaner.
Das ist eine andere, sehr spezielle Problemlage. Ich habe mich mit Albanien beschäftigt. Mich erheitert, wenn ich höre: muslimisches Land. Albanien hat sich jahrzehntelang in seiner Verfassung als erster atheistischer Staat definiert. Das wirkt nach. Religion hat daher kaum spirituelle Bedeutung. Religiöse Feste sind heute einfach Feiertage, und die werden gemeinsam begangen. Es geht ums Feiern. Jedenfalls nicht um religiösen Dogmatismus. Fliegen Sie nach Tirana: Sie werden Weihnachtsbeleuchtung über den Straßen sehen – wie in der Kärntnerstraße. Eine Frau mit Kopftuch ist wahrscheinlich eine Christin. Auf dem Papier sind 60 Prozent der Albaner Moslems, von insgesamt nur 2,8 Millionen. Es ist also auch von der Menge her lächerlich. Vor dem Beitritt Polens gab es keine Bedenken, dass über 30 Millionen polnische Katholiken das Verhältnis der Religionen in der EU in Schieflage bringen könnten.
Der Roman spielt zum Teil auf dem Kreuzfahrtschiff „SS Skanderbeg“. Die Nazis gründeten während der Besetzung des Balkans eine albanische Gebirgsjäger-Division, die auch „SS Skanderbeg“ hieß …
Das ist die Dimension des Romans. Innerhalb dieser Spannbreite eröffnet sich die europäische Frage, es geht mir um die Geschichte und Zukunft des Kontinents.
In der „Erweiterung“ geht es nebenbei auch um die albanische Mafia. Heute ist aber das Thema Korruption in der EU zentral. Oder?
Sie meinen den Korruptionsfall im Europäischen Parlament? Es ist erstaunlich, wie viel Staunen er auslöst. Es gibt bekanntlich überall Menschen, die käuflich sind, also auch dort. Denken Sie an den ehemaligen EU-Parlamentarier Ernst Strasser von der ÖVP. Mich erstaunt, dass Gier die Menschen derart dumm machen kann. Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und einige Abgeordneten waren bereit, für verhältnismäßig wenig Geld ihre gut bezahlten Jobs, ihre Karrieren und ihr Ansehen aufs Spiel zu setzen. Aber mich erstaunt auch die Dummheit jener, die gezahlt haben. Wenn ich als Scheich will, dass EU-Entscheidungen in meinem Interesse getroffen werden, dann kaufe nicht fünf von 705 Abgeordneten des Parlaments, das nicht einmal ein Initiativrecht hat, sondern jene, die wirklich die Entscheidungen treffen. Und die sitzen im Rat. Die Vizepräsidentin wurde nur für Phrasen bezahlt. Das ist fast komisch.
Sie schmunzeln also darüber?
Ganz sachlich: Das ist kein Skandal, sondern bloß eine Affäre. Ein Skandal wäre, wenn die Aufklärung behindert würde, wie in Österreich: Da wird der ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss von der ÖVP obstruiert und die Justiz bedroht. Das ist ein Skandal. Aber in der Affäre Katar gibt es keine Behinderungen der Aufklärung, kein Vertuschen. Und es werden Konsequenzen gezogen. Es gibt Rücktritte. Die Vizepräsidentin ist zurückgetreten und in Untersuchungshaft. Der Präsident des österreichischen Parlaments aber nicht. Das Hochkochen der Affäre zum Skandal dient jetzt nur noch dazu, eine EU-Institution in Misskredit zu bringen. Diese Skandalisierung ist der Skandal.
Vielleicht redet man von Skandal, weil erneut offensichtlich wird, dass Korruption alle Bereiche und Ebenen durchdrungen hat?
Es kann doch niemand ernsthaft glauben, dass unter 705 Parlamentariern keiner für Schmiergeld ein g’schamster Diener ist. Entscheidend ist, wie konsequent Kontrolle und Aufklärung sind. Auch wenn das Europäische Parlament bis jetzt nicht voll entwickelt ist, ist es avancierter als die meisten nationalen Parlamente. Weil es zum Beispiel keinen Klubzwang gibt. Die Europaparlamentarier können sich vom wissenschaftlichen Dienst über alle Für und Wider einer Frage, die zur Abstimmung steht, faktenbasiert informieren lassen – und dann so entscheiden, wie sie es für richtig halten. In Österreich braucht der Abgeordnete keine Aufklärung, wenn er sich nicht auskennt. Er muss ja nur tun, was der Klubobmann verlangt.
Katar bestach die EU-Parlamentarier vor allem für das Luftverkehrsabkommen. Und dieses ist schon bedenklich.
Ja. Mit dem Luftverkehrsabkommen eröffnet sich für Quatar Airways ein Markt mit 450 Millionen Menschen. Im Gegenzug wird den europäischen Luftlinien ein Markt mit 2,7 Millionen Menschen eröffnet. Das nenne ich ein schlechtes Geschäft. Aber diese Entscheidung hing nicht von den bestochenen Abgeordneten ab, sondern muss von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Österreich hat das bereits gemacht. Beschlossen im Ministerrat am 22. 9. 2021, vorgetragen von ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg in Absprache mit Verkehrsministerin Leonore Gewessler von den Grünen. Obwohl die Austrian Airlines vehement dagegen waren. Warum kaufen ahnungslose Scheichs fünf EU-Parlamentarier, wenn die nationalen Minister ohnehin dafür sind? Ich will nichts in den Raum stellen, aber frage mich, warum sich das niemand fragt.
Dass es einen Beigeschmack gibt, liegt auf der Hand. Auch was die Fußball-WM anbelangt.
Katar hat die WM zweifellos gekauft. Und die Öffnung des europäischen Flugmarkts? Wen noch hat Katar bezahlt? Oder waren die echten Entscheidungsträger so dumm, die Wünsche von Katar zu erfüllen, ohne Geld genommen zu haben?
Vielleicht wollte man es sich nicht mit Katar als Energielieferanten verscherzen?
Gewessler ist ja nicht nur Verkehrs-, sondern auch Energieministerin. Hat sie nicht gesagt, dass wir uns unabhängig machen müssen von Diktaturen und Gewaltregimen? Sind Katar oder die Saudis wirklich die Alternative zu Russland? Jetzt sind wir wieder bei der Innenpolitik, und was mich da emotionalisiert, ist die Frage, warum die Grünen alles tun, um nach der nächsten Wahl wieder aus dem Parlament zu fliegen.
Weil sie alles gutheißen, was die ÖVP will?
Um ihr Klimapaket nicht zu gefährden, verraten sie ihre Werte. Ich sehe, dass sie die Abschiebung von Kindern tolerieren, sie schweigen zu einer demokratiegefährdenden ÖVP-Medienpolitik, sie akzeptieren es, Europapolitik für populistische Signale zu missbrauchen, aber ich sehe kein Klimapaket. Ich bin überzeugt: Sie würden die Koalition nicht gefährden, wenn sie auch einmal Nein sagen würden. Aber kein Zweifel: Die Koalition hält, und dann fliegen die Grünen aus dem Parlament. Warum sollen sie vom aufgeklärten Österreich Stimmen haben, wenn sie schweigen?
Biografie: Robert Menasse, geboren am 21. Juni 1954 in Wien, studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft (Dissertation 1980). Von 1981 bis 1988 lehrte er an der Universität São Paulo, seither arbeitet er als freier Autor. Er ist der Sohn des Fußballers Hans Menasse und der Halbbruder der Schriftstellerin Eva Menasse.
Bibliografie: Mehr Aufmerksamkeit als mit seinen Romanen („Selige Zeiten, brüchige Welt“, 1991) erregte er anfangs mit Essays über Österreich, darunter „Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik“ (1990) oder „Das Land ohne Eigenschaften“ (1992). „Schubumkehr“ und „Die Vertreibung aus der Hölle“ (2001) waren bereits große Erfolge, für „Die Hauptstadt“ (2017) erhielt er den Deutschen Buchpreis.
Kommentare