Die Bilder – und da vor allem die Porträts – führen nahe an eine Epoche, die – ähnlich wie „Wien um 1900“ – einst ein kreatives Beben hervorbrachte, dessen Ausläufer in der Kunst- und Geistesgeschichte lange spürbar und sichtbar blieben. Im Zentrum dieser Eruption standen Kinder wohlhabender Kaufleute und adliger Personen, die oft auf ihren Auftritt in einem der Leitungsgremien des mächtigen Stadtstaats warteten und sich derweil in Bildung und Schöngeistigkeit übten: Leute wie der bislang nicht näher identifizierte junge Mann, der, ungeachtet der Tatsache, dass er vor gut 500 Jahren lebte, ungemein heutig wirkt. Empfindsam, nachdenklich und weit entfernt von heroischen Macho-Klischees könnte er jeden Moment an einer Podiumsdiskussion über die Gefahren toxischer Männlichkeit teilnehmen, denkt man sich.
Rich Kids of Canal Grande
„Tizians Frauenbild“ hieß eine Ausstellung des Wiener Kunsthistorischen Museums 2021/’22, die ebenfalls Venedig in den Fokus nahm. Die Münchner Schau könnte „Giorgiones Männerbild“ heißen oder auch „Giorgiones Welt“: Unmittelbarer als zuletzt in Wien gelingt es hier, an die Lebenswelt der Lagunenstadt heranzuführen, in der eine Szene junger Edelmänner sich in sehnsüchtigen Poesie-Abenden und Bildbetrachtungen erging und dabei quasi nebenbei den Grundstein für das moderne Sammlerwesen und den Kunstmarkt, wie wir ihn kennen, legte. Frauen waren bei diesen Salonabenden des öfteren auch mit dabei, wie die Forschungen zuletzt zeigten. Sie wurden aber doch primär sehnsuchtsvoll besungen und idealisiert dargestellt – damit befasst sich jener Teil der Münchner Schau, der sich mit jener des KHM überschneidet.
Wie das Leben der „Rich Kids vom Canal Grande“ ablief, weiß die Nachwelt zu einem großen Teil aus den Aufzeichnungen des Marcantonio Michiel (1484–1552), der ab 1521 insgesamt 22 edle Herren in ihren Palazzi aufsuchte und deren Kunstsammlungen genau unter die Lupe nahm.
Ein Katalogeintrag betraf das Haus des Taddeo Contarini, in dem sich das Bild „Der Hl. Franziskus in der Wüste“ von Giovanni Bellini in direkter Nachbarschaft zu einem Gemälde von Giorgio de Castelfranco, genannt Giorgione, befand. In New York hängen beide Bilder bis zum 4. 2. 2024 nun erstmals wieder im selben Raum.
Die Bezeichnung „Drei Philosophen“, die Michiel für das Giorgione-Bild verwendete, blieb bis heute aufrecht. Die Frage, was tatsächlich dargestellt ist, beschäftigt Experten aber immer noch. Vielleicht waren die Bilder, randvoll mit symbolträchtigen Details, auch nie dazu bestimmt, restlos entschlüsselt zu werden, schreibt der Kunsthistoriker Johannes Grave im Katalog zur Münchner Schau: „Zuallererst sind sie Gegenstände eines offenen, sich zeitlich erstreckenden Schauens und Nachsinnens“.
Salon als goldener Käfig
Eine solche Bildbetrachtung als Meditation hatte Vorbilder im Mittelalter, wurde aber in den venezianischen Salons auf eine neue Ebene gehoben.
Dass sich hinter Heiligen und Madonnen oft der Blick in eine idealisierte Landschaft auftut, hatte laut Forschern auch damit zu tun, dass die Republik Venedig 1509 fast ihrer gesamten Besitzungen am Festland verlustig ging: Die jungen Edelmänner saßen also gewissermaßen in der Lagune fest und lasen sich antike Hirtengedichte vor – man hat eine Szene wie im Film „Der Club der toten Dichter“ vor Augen.
Junge, sehnsuchtsvolle Gesichter hängen an fast jeder Wand der Münchner Schau – in einem Jüngling von der Hand Giorgiones steckt ein Pfeil, das Bild hängt sonst im KHM. Auch der auffallend junge kreuztragende Christus, das Postermotiv der Ausstellung, ist eine Leihgabe aus Wien – ob er auch vom geheimnisvollen Giorgione stammt, ist ungeklärt, sagt KHM-Kustodin Francesca Del Torre auf Nachfrage.
Der Maler, der laut dem Künstlerbiografen Giorgio Vasari auch exzellent Laute spielte, fiel 1510 einer Pandemie – der Pest – zum Opfer. Die Sensibilität seiner Zeit, die Sehnsucht nach Ruhe und Einkehr, fand zu vielen Zeiten Resonanz. Nun scheint sie wieder lauter zu klingen.
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