Verena Güntner: Ich habe lange Zeit nur für mich geschrieben, aber eher so Journalhaftes. In Salzburg übrigens ganz intensiv, vermutlich zur mentalen Entlastung, um das Schauspielstudium zu überstehen. Nach einigen Jahren in Engagements am Theater hat es mir dann gereicht, ich habe recht schmerzfrei damit abgeschlossen und meinen ersten Roman geschrieben. In der Bibliothek am Heldenplatz zu großen Teilen, weil ich zu jener Zeit in Wien war.
Ihr erster Roman „Es bringen“ handelt von einem Problem-Teenager namens Luis, nun antworten Sie mit Kerze, einem starken Mädchen. Gibt es eine Verbindung zwischen den beiden Geschichten?
Beide Figuren bewegen sich an einer Schwelle: Kerze ist kurz vor der Adoleszenz, Luis aus meinem Debütroman kippt dort gerade schon wieder heraus und wird erwachsen. Das sind ja ungemein interessante Lebensphasen, in denen viel passiert. Beide Figuren verbindet wohl der Hang zum Absoluten, zur Grenzüberschreitung, auch deshalb, weil sie sich stark selbst ermächtigen. Kerze ist aber gnadenloser als Luis.
Kerze ist zwar erst elf Jahre alt, aber handelt wie eine Erwachsene. Sie braucht niemanden – nicht mal ihre Mutter. Was ist das für eine Figur, die Sie sich da ausgedacht haben? Und was will Ihre Protagonistin den Lesern sagen?
Kerze ist eine Instanz im Dorf, die Erwachsenen trauen ihr sehr viel zu und verlieren mitunter aus den Augen, dass sie noch ein Kind ist. Auch sie selbst hat diese Rolle stark angenommen und verlangt sich sehr viel ab. Diese Rollenumkehr hat mich sehr interessiert. Und auch, was passiert, wenn man den Gedanken auf die Spitze treibt, aus dem anfänglichen Spiel bitterer Ernst wird. Die Dynamik, die sich unter den Dorfbewohnern entwickelt, hat ja stark mit diesem Kontrollverlust zu tun – mit der Unerbittlichkeit ihrer Kinder haben sie nicht gerechnet.
Kerze ist enorm zielstrebig und ordnet ihrem Ziel, Power zu finden, alles unter. Das erinnert an Greta Thunberg. Wie viel Greta steckt in Kerze?
Ich habe beim Schreiben keine reale Figur vor Augen gehabt. Der Roman war schon weit fortgeschritten, als das mit „fridays for future“ losging. Ich kann aber verstehen, dass man diesen Gedanken haben kann, Power lässt ja viele Deutungsmöglichkeiten zu. Intendiert war das jedoch nicht. Die Kinder wollen auch nicht die Natur an sich retten, nur diesen einen Hund. Die Radikalität, mit der sie vorgehen, weist dann aber doch über eine bloße Hundesuche hinaus und spannt den Bogen zu etwas Größerem.
Ist der Roman auch eine persönliche Abrechnung mit dem gerne beschworenen und verklärten Traum vom Leben am Land?
Ich lebe ja in Berlin. Viele spielen hier regelmäßig mit dem Gedanken, aufs Land zu ziehen. Auch ich würde natürlich lieber einen Garten haben, statt mit den Kindern immer nur auf Spielplätzen rumzuhängen. Ich misstraue diesem Gefühl aber und weiß genau, warum ich mich für die Großstadt entschieden habe. Gegen die Verklärung vom Landleben der Städter wollte ich bestimmt ein bisschen anschreiben, trotzdem kein generelles Bashing betreiben. Für meine Geschichte war es einfach wichtig, den Raum zu verdichten, diesen Mikrokosmos zu haben. Die Geschehnisse im Dorf, die das Verschwinden der Kinder auslöst, können überall so passieren.
„Kerzes Strategie ist Empathie“, schreiben Sie im Buch. Ist Empathie dann auch Kerzes Schlüssel zum Erfolg?
Für Kerze ist der Weg der Empathie der einzig logische: Um den Hund zu finden, muss sie selber einer werden. Das ist ein ganz pragmatischer Lösungsansatz, der den Erwachsenen zwar seltsam erscheint, in der kindlichen Wahrnehmung aber schlüssig ist. An diesem Punkt scheitert auch die Kommunikation zwischen den Generationen. Die Sprachlosigkeit und Ohnmacht der „Großen“, wie die Kinder sie nennen, schlägt schließlich in Gewalt um.
Kritik: Hat man die ersten paar Seiten des neuen, zweiten Romans der in Berlin lebenden Autorin Verena Güntner (42) hinter sich gebracht, spürt man den enormen Sog, den die Handlung zu entwickeln weiß. „Power“ wegzulegen, ist keine Option mehr. Und so begleitet man die elfjährige Protagonistin Kerze, die an „Keingott“ und Geister glaubt, bei ihrer Suche nach Power, dem vermissten Hund der Hitschke. Nach und nach schließen sich weitere Kinder des Dorfes Kerzes Suche an – bald ziehen sie bellend auf allen Vieren über den Dorfplatz in den Wald: Ein rebellisches Rudel voller (von ratlosen Eltern missachteter) Kinder, die zunehmend verwildern. Verena Güntners sonderbare Geschichte ist ein düsteres Märchen, das von Abgründen unserer Gegenwart und einer gefühlsarmen Gesellschaft erzählt. Jeder im Dorf (und darüber hinaus) interessiert sich nur noch für sich selbst. Es herrscht Desinteresse und Einsamkeit. Also muss Kerze handeln.
INFOS: Verena Güntner: „Power“. DuMont. 250 Seiten. 22,70 Euro. Ab 16 Jahren.
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