Im Refrain geht es um Schmerz

Marie Fredriksson von Roxette
Neue Autobiografien von Marie Fredriksson, Phil Collins, Marina Abramović und Bruce Springsteen

Die Popmusik hat, mitsamt der dahintümpelnden Untergruppe Rock, zuletzt viele ihrer einstigen Aufgaben abgeben müssen. Längst ist sie nicht mehr der Soundtrack der jeweils jungen Generation; das ist lange Jahre die elektronische Musik gewesen; nunmehr ist es das, was der Streamingalgorithmus halt so aussucht. Pop ist in der Politik gerade noch dazu gut, die Generation 30+ zum Wählen zu motivieren. Und auch als emotionales Ventil für die schwierigen Jahre der Erwachsenenwerdung muss er nicht mehr alleine sorgen – dafür gibt es jetzt YouTube-Stars und Snapchat-Dialoge.

Pop ist schal und schwierig gewordenes Business und Begleitmusik beim Autofahren (was übrigens auch immer weniger junge Menschen machen).

Plötzlich betroffen

Rechtzeitig zum heurigen Weihnachtsgeschäft aber ist plötzlich alles wieder anders: Pop berührt, ja macht sogar betroffen. Nicht als Musik, sondern als Buch.

Denn einige der zentralen Menschen der großen Zeit haben Autobiografien veröffentlicht; deren Lektüre geht über den in Starbiografien üblichen (und durchaus auch schon spannenden) Blick ins Wohnzimmer hinaus. Und macht Menschen sichtbar, die trotz allem Ruhm – oder für diesen – leiden, in einer Ehrlichkeit, die überrascht und stellenweise überrumpelt.

Die Autobiografien von Bruce Springsteen, Phil Collins, Brian Wilson und Marie Fredriksson von Roxette erschienen in einem Pop-Jahr, das ohnehin von vielen schweren Gedanken geprägt war, und Phil Collins hat es in "Da kommt noch was" (Heyne, 24,99 Euro) vermerkt: "2016 haben wir viele Künstler meiner Generation verloren. Anlass für mich, über meine Sterblichkeit und Schwächen nachzudenken." Der Genesis-Frontmann und Solohitlieferant ("In The Air Tonight") gibt tiefe Einblicke, in die Gehörschäden, die das Schlagzeugspielen hinterließ, in seine Alkoholsucht, in seine gescheiterten Beziehungen (und hat sich gleich eine Klage seiner ersten Frau eingehandelt).
Auch Bruce Springsteen macht in "Born To Run" (Heyne, 27,99 Euro) keinen Hehl daraus, dass er abseits der Bühne gegen eine schwere Krankheit ankämpfen musste: Er leidet an schweren Depressionen, die stundenlangen Auftritte, für die Springsteen bekannt ist, waren seine Rettung. Auch die schwierige Beziehung zu seinem Vater macht Springsteen nun detaillierter öffentlich, als es in seinen Songs möglich ist: "Er liebte mich, konnte mich aber nicht leiden."

Collins und Springsteen sind bekannt dafür, in ihrer Musik auch die dunklen Seiten des Lebens zu besuchen. Roxette, das große schwedische Popduo der 1990er Jahre, tat das nicht: Songs wie "Joyride", "Listen To Your Heart" und "Sleeping In My Car" sind Vehikel für jene Form der gutgelaunten Ablenkung von der Welt, die die Popmusik auszeichnet.

Vielleicht auch deswegen ist die Autobiografie von Sängerin Marie Fredriksson jene, der man sich am vorsichtigsten nähert. Bei Fredriksson wurde 2002 Krebs diagnostiziert; und in "Listen To My Heart. Meine Liebe zum Leben" (edel, 19,95 Euro) erzählt sie, "wie es ist, von diesem Schicksal getroffen zu werden". Ein kraftvoller Akt, wie jene Tourneen, auf die Fredriksson – schon erkrankt – gegangen ist. "Ich werde mich niemals hinlegen und sterben", schreibt sie.

"I am Brian Wilson", die Autobiografie des "Beach Boys"-Genies, ist "eine Geschichte über Musik, Familie, Liebe – und über eine geistige Erkrankung", und (derzeit nur auf Englisch) trotz schwächerer Passagen lesenswert. Kein Pop, aber die eindringlichste Schilderung der Rolle von Schmerz für die Kunst ist die Autobiografie von Marina Abramović, "Durch Mauern gehen" (Luchterhand, 28 Euro).

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