Paul Verhoevens Nonnen-Schocker in Cannes: Ekstasen der Selbstinszenierung
Das Festival in Cannes geht ins erste Halbfinale, und es sind nicht nur Filme, die die Diskussionen bestimmen. Debatten über Coronaregeln sind Dauerthema. Derzeit werden in Cannes durchschnittlich drei Covid-Fälle pro Tag entdeckt, was keinen Grund zur Cluster-Sorge gäbe, wie die Festivalleitung versichert. Trotzdem wird man immer wieder an pandemische Schreckensszenarien erinnert, wo man es am wenigsten vermutet.
Paul Verhoevens neuer Nonnen-Reißer „Benedetta“ mag vielleicht schon aufgrund seiner expliziten, lesbischen Sexszenen manche Zuschauer und Zuschauerinnen brüskieren. Doch wenn dann die Pest vor den Toren der italienischen Stadt Pescia wütet, ein Lockdown verhängt wird und verstorbene Menschen hastig verscharrt werden, dann entstehen wahrlich gruselige Anklänge an unsere Gegenwart in einem Film, der bereits vor Corona gedreht wurde.
Tatsächlich spielt das Nonnendrama des „RoboCop“- und „Basic Instinct“-Regisseur Paul Verhoeven im 17. Jahrhundert und basiert auf wahren Begebenheiten während der italienischen Renaissance.
Ein Mädchen tritt ins Kloster ein und verblüfft bald die gesamte Schwesternschaft mit Christus-Visionen und blutenden Wundmalen. Benedettas Fantasie ist befeuert von unterdrücktem sexuellen Begehren und kulminiert in Vorstellungen von fauchenden Giftschlangen, denen die Köpfe abgeschlagen werden, und einem jugendlich-erotischen Jesus. Als schließlich eine Bauerntochter ins Kloster eintritt, beginnen die beiden Frauen eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, im Zuge dessen Benedetta die Klosterführung an sich reißt.
Verhoeven kombiniert seine allseits bekannte Lust am ausbeuterischen Exploitation-Genre samt Softporno mit Horrorkomödie und theatralem Exzess. Genussvoll malt er in fleischigen Farben grelle Szenarien der Grenzüberschreitungen zwischen Glauben(swahn) und Profanität.
Religionsspezialist
Die belgische Schauspielerin Virginie Efira verausgabt sich als Benedetta zwischen sexueller Ekstase und blutiger Selbstinszenierung, während die immer coole Charlotte Rampling als smarte Äbtissin von Benedettas Wundervisionen wenig beeindruckt bleibt.
Verhoeven gilt als Religionsspezialist, der sich mit einem Buch über das Leben Jesu profilierte. Ob Benedetta nun aber tatsächlich eine hellseherische Heilige ist oder doch nur eine gute Schauspielerin, die den Glauben der anderen für sich ausnutzt – auf die Klärung dieser Frage kommt es ihm allerdings nicht an.
Bei Verhoeven verbirgt sich Wahrheit in der Kraft guter Performance. Er choreografiert die Konflikte um Glaube und lesbische Liebe als eine Abfolge effektvoller Auftritte. Wer am besten spielt, gewinnt. An die Dringlichkeit seines letzten Films aber, den umwerfenden Rape-Revenge-Schocker „Elle“ mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle, kommt „Benedetta“ allerdings nicht heran.
Seitensprung
Wenn man verliebt ist, steht die Welt still.
Die 30-jährige Norwegerin Julie lebt in einer Beziehung mit einem 15 Jahre älteren Comiczeichner. Eigentlich geht es den beiden gut, doch bei einer Party lernt die junge Frau einen anderen Mann kennen. Zuerst widerstehen beide der Versuchung zum Seitensprung.
Doch als sie sich zufällig wiedertreffen, explodieren die Herzen. Eine Entscheidung muss getroffen werden.
Der norwegische Regisseur Joachim Trier inszeniert einen jener Lebensmomente, in denen wichtige Weichen gestellt werden, kongenial mit einem Filmtrick: Julie drückt auf einen Schalter – und plötzlich bleibt die ganze Welt stehen. Nur sie und der neue Geliebte können aufeinander zulaufen.
Trier beginnt seine unterhaltsam-nachdenkliche Millennial-Tragikomödie „The Worst Person in the World“ im leichtfüßigen Plauderton, wird dann aber zunehmend tragischer. Denn egal, welche Entscheidungen man trifft, das Leben ist immer auch eine Abfolge verpasster Möglichkeiten.
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